Bulgarien ist eine Walnuss

Sie knacken hieße: sie zerstören. Also ist der Grenzgänger als teilnehmender Beobachter in Bulgarien gut beraten, wenn er sich selbst als Walnuss entdeckt und so Selbstbild und Fremdbild einander von innen heraus erkennen lässt, ohne die Schale anzutasten.

Das war er also, der Großstadtdschungel, nach dem ich mich in der geordneten Perspektivlosigkeit meines deutschen Daseins immer gesehnt hatte: Nach zwei Tagen Fahrt im Kleinbus, in den ich das allernötigste Hab und Gut verladen hatte, war ich von einem idyllischen westdeutschen Städtchen mit restaurierten Fachwerkhäusern, sauberen Straßen und ohne besondere Vorkommnisse im letzten noch vor der Wende erbauten Plattenbauviertel Sofias angekommen. Die langgezogenen Betonblöcke mit meist acht Stockwerken und fünf Treppenaufgängen lagen im Abendlicht da wie gestrandete Walfische. Nachträglich verglaste Balkone, in denen die Menschen wegen der kleinen Wohnungen meist ihre Küchen installiert hatten, reflektierten das Sonnenlicht. In der Ferne gärte im aufsteigenden Dunst der Kegel des Witoscha, ein bulgarischer Kilimandscharo. Das Gefühl, wirklich in einem Dschungel gelandet zu sein, stellte sich aber nicht nur deshalb ein, weil die damals, zur Jahrtausendwende, noch streunenden Rudel ausgesetzter Hunde einem vermittelten, man könne jeden Moment zerfleischt werden. Es ergab sich vielmehr als Summe kleiner Dinge, die nach deutschen Maßstäben nicht in Ordnung waren. Wacklige oder schiefe Gehsteigplatten machten meiner Neigung, gedankenverloren durch die Gegend zu schlurfen, schon bald ein Ende. Riesige Schlaglöcher im Asphalt der Straßen warnten: Einen einzigen Schritt nicht aufgepasst, und du liegst mit gebrochenen Knochen auf der Nase. Und als ich gerade gelernt hatte, aufmerksam auf den Boden vor mir zu schauen, stieß ich mir beim Versuch, eine Busfahrkarte zu kaufen, den Kopf an den Metallstangen einer Zeitungsbude, die Menschen von mehr als 1,70 Meter Körpergröße mit Beulen bestraften. Abgesägte Laternenpfähle und geklaute Kanaldeckel, von verarmten Leuten im Wirtschaftscrash der Wende bei findigen Buntmetallzwischenhändlern gegen amerikanische Dollars verscherbelt, stimulierten die Phantasie des fremden Beobachters und ließen ihn nach den größeren Zusammenhängen fragen. Nachts wurde dies Wildreservat, von nur wenigen verbliebenen Straßenlaternen notdürftig erhellt, in eine Atmosphäre lauernder Lebendigkeit getaucht. Ich stellte mir vor, dass fremdartige Raubtiere unsichtbar zwischen den ächzenden Betonklötzen, den summenden und klackenden Stromverteilerhäuschen und dem Rascheln der Müllcontainer, in denen der Wind nach Essen wühlte, umherstrichen. Manchmal hörte man sie sogar, wenn eine der zahllosen Auto-alarmanlagen losheulte und gleich darauf ein Rudel Hunde in deren Jaulen einstimmte, als hätte es Beute gemacht. Die Wachheit, die dies alles in mir erzeugte, war anstrengend, aber sie euphorisierte mich auch. Im Gegensatz zu der Wachheit in Deutschland, die auf bestimmte Aufgaben oder Interessen beschränkt war, war dies hier eine notwendige Wachheit, eine Wachheit, von der mein Überleben abhing. Und so glich die erste Fremderfahrung, die ich in Bulgarien machte, einem Muskelkater, der nicht etwa darauf verwies, dass ich mich verändert hatte, sondern sehr schmerzhaft darauf, was bisher in mir brachgelegen hatte!

 

 

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Thomas Frahm gilt als bedeutender Übersetzer aus dem Bulgarischen. Der Bulgarische Journalistenverband würdigte Frahms faire Darstellung der bulgarischen Verhältnisse in seinem Essayband Die beiden Hälften der Walnuss im Herbst 2016 mit ihrem Spezialpreis.

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Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt, daher brachten wir den Austausch zwischen Rumjana Zacharieva und Safiye Can.