Elftes Nachtstück

 

Du gehst falsch mit ihr um, die dir in treuer Ergebung in den Träumen erscheint. Du befürchtest sie, weil sie den Traum-Anschein stört, und sehnst sie herbei. Äonen, seitdem du ihrem traurigen Mandelgesicht ein Lächeln entlocktest, zu eurem Kennenlernen vielleicht und lange vorbei. Sie liebt dich vom ersten Tag an, sagt sie und drückt sich in Schüchternheit an dich, mit ihrem zitternden und frierenden Leib. Du kannst dich des Gelöbnisses nicht mehr erinnern, aber es ist nun unabweisbar: sie gehört nun zu dir; unaufhörlich schluckt sie deine und der Anderen hilflose Demütigungen; und sie ist dir noch fremd, so, wie du versuchst, dich in deinem Traumzentrum zurechtzufinden; sie, die du schon heimlich und unwissend begehrst; keinen geraden Blick könnt ihr, in eurer Verwirrung und der angestrengt unterdrückten Peinlichkeit eurer ungleichen Begegnung, aufeinander lassen. Ihr Leib, wenn du sie heimlich beobachten kannst, schwankt immer zwischen üppig und schmal, ihre Brüste zeichnen sich einzig fest ab und ihr entschlossenes, vor Entschlossenheit, zu dir zu gehören, erschöpftes Gesicht. Du stehst schon in ihrem Duft und bist ihr schon geneigt; allein, du weißt, weil du in dir noch Hindernisse, deine Unfreiheit, vermutest, sie noch nicht zu umfangen, wie sie es sich wünscht und was die Befreiung wäre, wie das Erwachen aus einem Traum in einen Traum, der leichter gefügt ist … aus einer alkoholerzeugten Verwirrung: sie in deinen Arm einzuschließen, ihren nach dem Ende der Demütigung durch deinen schüchternen Stumpfsinn gierenden Leib zu erwärmen. Fast wagt sie nicht mehr, als wäre ihr eine Schuld zuteil, den Mandelblick zu heben. Du bist ein schmutziger Despot in deiner Ratlosigkeit. Du wirst verzweifeln darüber, wenn du dich nicht endlich aufmachst, aufraffst aus deiner Todsucht, die deine Regungen weiter und weiter zersprengt. Du mußt dich aus dem Bannkreis der Andern befreien. Du mußt dein Leben ändern. Und du hältst dich von nun ab an ihren Duft, mit dem sie dir gegenübersteht und unerschütterlich folgt. Ihre Kraft ist unerschöpflich. Nach bitteren Gewaltmärschen, auf denen sie deine Fluchten verfolgte, schmiegt sie sich dir wieder an; endlich begreifst du und spürst auch den Bann ihrer Aura, ihrer Körperlichkeit. Und der jetzt klar gerichtete Blick in dein Gesicht gibt den Ausschlag, daß du ihr wirklich verfällst. Sie hat sich in der Anstrengung gegen deine Agonie Narben und Falten beigebracht; ihre Kleidung ist zerrissen, die Haut ihrer Glieder zerschrammt. Aber der Blick ist dir nun heilig, und du nimmst endlich ihren unter frostigem Schweiß bebenden Leib in den Arm; und du merkst, daß du selbst im Frost fast umgekommen sein mußt, in deiner Abgestumpftheit. Die Anderen schweigen, sie haben dazu kein Wort mehr zu sagen. Die Körper der Schein-Geliebten aus früheren Träumen, die dich gehindert haben, dich ihr hinzugeben, weichen zurück. Alle Blicke Fremder scheiden; du fühlst nur noch deinen Blick, nun unablässig und die vorangegangene Brüskheit nicht mehr begreifend, auf sie gerichtet. Sie liegt dir in maßloser Erschöpfung im Arm, wie du ihr. Es ist der Augenblick deiner Erlösung, wenn du begreifst, daß die Liebe zu dir gekommen ist. Du hast nichts dafür getan. Du warst mit dir beschäftigt zu lange, lange genug. Es ist ein Geschenk, dessen du vielleicht unwürdig bist, steht es dir für eine Sekunde im Kopf, und in der Befürchtung, daß der Augenblick dieses Gedankens nicht mehr vergeht, klammerst du dich an sie; und du gibst ihr einen Namen: du nennst sie, in Erinnerung an die unsterbliche Liebe eines sterblichen Dichters, fortan Hoki-San; und sie wird bei dir bleiben, über die Äonen hinweg, die es dauerte, in deinem Gesicht ein Lächeln zu erregen; endlich, im Lohn für diese Unentwegtheit, in diesem Traum, da sie dich verfolgte, Hoki-San, und aus dem du nicht mehr erwachst.

 

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.