Abschied von Gestern

Es empfiehlt sich, Gedichte von Günter Grass erst mit den Augen und dann mit dem Schraubenzieher zu lesen. Sie ähneln Ikea-Regalen. Auf dem Papier sieht alles ganz einfach aus, aber wenn man das fertige Werk erst einmal auseinander genommen hat, kriegt man es einfach nicht mehr zusammen.

 Frank Schirmacher

Während man sich allerorten mit der Gesinnungsästhetik der engagierten Literatur aus der altern BRD auseinandersetzt, konzentriert sich KUNO auf den Lyriker. In seinem letzten Gedichtband Dummer August reitet Günter Grass Attacken gegen die veröffentlichte Meinung. Er fertigt sein Publikum ab mit stammtischhaften, leicht paranoiden Klischees von einer verschworenen Presse, die Vernichtungskampagnen gegen ihn führe. In seiner Altersenilität ist dieser Gebißträger nicht in der Lage Lyrik und Abrechnung auseinander zu halten. Diese Gedichte inkarnieren so ziemlich alles, wogegen seit den 1960-er Jahren eine inspirierte Lyrik in Westdeutschland antrat: Gegen den Mißbrauch des Verses als Zeilenbrecher für poesieärmste Beobachtungsprosa, die Aufblähung eines mitteilungsarmen „Ich“ zur Repräsentanz–Monstranz, gegen die weitgehende Abwesenheit formaler Rafinessen, gegen Phantasiearmut, Banalitätshuberei und die Nobilitierung des Räsonnements im Gedicht. Erstaunlich ist es schon, daß jemand, der das Privileg besitzt, lebendig im Arbeitskontakt mit nachwachsenden Schriftstellern zu stehen und reflektiert genug sein dürfte, die Entwicklungen deutschsprachiger Lyrik zur Kenntnis zu nehmen, unbeirrbar einem poetologischen Ansatz folgt, dessen Anachronismus inzwischen grell zutage tritt. Indem er sich – scheinbar – nach Innen wendet und sein Innerstes nach außen kehrt, indem er nur noch als lyrische Empfindsamkeit auftritt, an der jeder Einwand, alle Kritik, jedes Argument zuschanden geht, will er einen Standpunkt über allen anderen einnehmen. In Gestalt seiner Gedichte soll die Kunst siegen, soll sie das letzte Wort gegen die Zeitungen haben. Grass textet:

Nie zu spät wird, was war und ist, beim Namen genannt.

Nur, daß es zu spät sei, hatte ja niemand behauptet. Alle fragten und fragen, warum so spät. Grass‘ Antwort ist auch nach einigem Nachdenken die gleiche geblieben:

Es dauerte, bis ich Wörter fand für das vernutzte Wort Scham.

Für einen Autor seiner Reputation fand er Wörter, sie verdeckten mit ihnen die Scham, sie klärten nicht über sie auf. Auf Reime verzichtet Günter Grass in diesem Buch, ob es sich bei seinen Versen hingegen um Gedichte handelt, ist eine andere Frage. Zu apologetisch, zu selbstgewiß, zu sehr auf die Rechtfertigung seiner selbst bedacht sind viele dieser Zeilen. Das politisch-moralische Terrain ist unwegsam; der Sinn für die Ambivalenzen von Erinnerung wird oft durch Urteilsfreudigkeit verbaut. Mit dieser, zu Zeilen gebrochenen Altherrenprosa ist Grass längst aus der Welt gefallen. Nun hat ihn auch das Zeitliche ereilt. KUNO trauert, wie um jeden anständigen Mann.

Weiterführend →

Die durchgängige Attitüde des Entlarvens ist schal geworden; sie hat sich intellektuell nicht weiterentwickelt, sich als Aufklärung nicht selbst reflektiert angesichts einer gewandelten Welt. Es schaut so aus, als hätte die Rekanonisierung dieses Autor bereits zu Lebzeiten begonnen.