Kurz, Geschichte: eine Kurzgeschichte?

Je mehr Du kürzest,

desto häufiger wirst Du gedruckt.

Anton Tschechow

Wer ein Faible für kurze Liaisonen hat, der ist bei Kurzgeschichten von vornherein gut aufgehoben. Denn kaum bist du als Leser/als Leserin der Erzählfigur begegnet, kaum ist sie in dein Leben getreten und du hast Neugier und Anteilnahme durch dein Vertiefen in die Lebensbeschreibung bekundet, ist sie auch schon wieder weg – genauso ohne Abschied, ohne erklärende Worte wie manch andere unliebsame Lebenserfahrung.

Uns fehlt der Optimismus des 19. Jahrhunderts, zu glauben, diese Welt ließe sich auf fünfhundert Seiten einfangen; deshalb wählen wir die kurze Form!

 Jorge Luis Borges

Als normal sozialisierte/r Leser/Leserin möchtest du jedoch eine längere Beziehung eingehen, auch mit einer fiktiven Figur. Du möchtest sie länger als fünfzehn Seiten lang begleiten, ihre Beweggründe für ihr Auftreten ergründen, ihr Denken und Fühlen nachvollziehen. Vielleicht entstehen aus diesem Grund die beliebten Sammelbände von Kurzgeschichten in denen nur ein Protagonist /eine Protagonistin durchgehend handelt. Dennoch, auch dieser Kunstgriff kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Kurzgeschichten zusammengefasst noch lange keinen Roman ergeben. Und das möchte die Kurzgeschichte auch nicht sein, die kleine Schwester des Romans. Sie möchte auch nicht nur Spielfeld sein für das Erlernen des Handwerks des Schreibens für einen zukünftigen Autor. Sie stellt ein eigenes Genre dar, dass zwar in der Fachdiskussion begrifflich nicht eindeutig definiert ist, dennoch eigenen Regeln unterliegt, um als solche erkannt und anerkannt zu werden. Bereits Edgar Allen Po und Ernest Hemingway sind speziell durch ihre Kurzgeschichten berühmt geworden. Auch Franz Kafka gehört zu den Erfolgreichen bei den kürzer gehaltenen Texten die für den Leser/die Leserin in einem Durchgang zu lesen sind, die den Leser/die Leserin quasi gleich in die story hineinwerfen ohne lange Einleitung, die Charakter in prägnanten Eigenschaften herausgestellt vorfinden lassen und viele kleine unterschwellige Mitteilungen  zum Selbstdeuten geboten bekommen, ehe es an ein offenes Ende geht.

Kafka ist heute eine der meistdiskutierten Persönlichkeiten und leider gibt es auch sehr viele Interpretationen von Kafka, die gewissermaßen – ohne ihn je persönlich gekannt zu haben – sein Bild verzeichnen. Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Forschern – und mit Freude stelle ich fest, dass auch gerade unter den Tschechen solche Forscher aufgetreten sind und weiter auftreten -, die Kafka richtig erklären. Das heißt: einfach ihn so nehmen, wie er geschrieben hat.

Max Brod

Franz Kafka, Fotografie aus dem Atelier Jacobi 1906

Franz Kafkas Texte, vor allem seine frühen, haben die Literaturwissenschaft gespalten. Etliche Vertreter sehen diese Texte als misslungen, andere wiederum erkennen darin bereits all das Neuen, mit dem er die zukünftige Literatur auflädt. Gerade bei einem Autor wie Kafka stellt sich nicht die Frage, warum Kurzgeschichten. Die Antworten drängen sich mit den Texten auf. Die Literaturgenießer wollen gar nicht von einem Textstück erlöst werden, sind bloß daran interessiert, wie in einem guten Restaurant einen Platz zu bekommen, sich speisen aber nicht mit Billigstformulierungen abspeisen zu lassen.

Die Ausweglosigkeit und Dunkelheit der Kafkatexte bieten eben keine Lösung, höchstens viele Möglichkeiten zum Staunen, in das sich zwar hie und da panisches Entsetzen mischt, gepaart mit einem Spiel der Sprache und damit auch mit sich selbst. Das vermag den Leser anziehen und abstoßen, ihn hineinziehen und hinauswerfen, zu einem „blinden Sehen“ einladen. Diese Paradoxien die auch mittels der Adaption ästhetischer Mittel wie z.B. der Traumlogik hergestellt werden, in der Raum und Zeit aufgehoben sind, und surreale Bilder nicht aufgelöst werden, verweisen auf eine Kunst die auf Erklärungen verzichtet. Sie sind Initialzündungen für einen utopischen Raum in dem „dunkle Revolution“ gewissermaßen beginnen kann, „Geschichte“ – historische und je persönliche die sich wiederum einbinden lässt in erstere.

Entsprechend tastend, fast konkretistisch schreibt Kafka aus dem Dickicht der Sprache sich selbst in diese und mit dieser ein. Ein derart intensiver Umgang mit Text, der „Bilder“ erzeugt, verträgt keine längere Romanform.

Die Männer des Kahlschlags […] wissen, oder […] ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind.

Wolfgang Weyrauch

In Werkstattgespräche mit Schriftstellern spricht sich Heinrich Böll über Kurzgeschichte aus. Er meint, dass es nicht die Kurzgeschichte an sich gäbe, dass jede ihre eigenen Gesetze habe, dass sie nicht die geringste Nachlässigkeit dulde und dass sie vielleicht deshalb zur reizvollen Prosaform geworden ist, weil sie alle Elemente der Zeit enthalte. Der Leser einer Kurzgeschichte möchte schnell auf den Punkt kommen, wie ein guter Witz. Es gibt dafür eine Exposition die meist außergewöhnlich ist, mindestens eine überraschende Anwendung enthält die verblüfft. Und alles was die Stärken eines Romans ausmacht, spielt bei einer Kurzgeschichte nur am Rande eine Rolle, sie muss mit wenigen Sätzen oder sogar Worten auskommen.

A.J. Weigoni ist ein genialer Decouvreur von Alltagsmythen, ein Demonteur von Sprache auf hohem Niveau.

Wolfgang Schlott

Ähnlich einem Franz Kafka dessen Werk sich mit der Kraft auszeichnet Dissonanzen zu erzeugen, zeichnen sich auch die Erzählungen des A. J. Weigonis aus. Mit Zombies wird der Leser/ die Leserin in ein abgründiges Reich menschlicher Leidenschaften geführt. Mit Ohrenzwinkern reagiert der gewitzte Kenner/die Kennerin von Sprache auf hohem Niveau, die ganz einfach und in modernen Szenen gefasst daherkommt und Emotionen unterschiedlichster Art in Schwingungen versetzt, auf die „Bilder“ dieses Autors, der es gekonnt wie Kafka versteht, nicht die gelesenen Worte am Steuer sitzen zu lassen, sondern das was im Erleben damit ausgelöst wird, was in einen tieferen Zusammenhang gebracht wird. Obwohl beide Autoren ihre Erzählungen strukturiert darbieten, gestalten sie sich als sehr indifferent, was zu einer Ausgestaltung analogem Geschehens beim Leser /bei der Leserin führt. In der Natur der Literatur wie des Menschen ist die Wiederholung angelegt, zur Untersuchung von Wort und Sprache. Sprechen/erzählen heißt sich bewegen nicht nur mit dem Mund, so wie das „In-der-Sprache-sein“ gleichnishaft komplex und paradox eine Bewegung darstellt. Kurz, eine Geschichte, eine Kurzgeschichte!

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

→ Weiteres zum Thema auf Kultura-extra, nrhz, fixpoetry. Und inzwischen wurden die Zombies zum Kultschatz erklärt.

Anmerkung der Redaktion: Den ersten Teil zum Thema Kurzgeschichte lesen Sie hier.