Viertes Nachtstück

 

In den Nächten ragen die Beinstümpfe der Toten ins Nichts, so, als würde die Maßlosigkeit der Schwärze damit gelindert. Aber das Dunkel bezieht sich noch mehr; der schummrige, direkt vor den Augen hereinbrechende Abgrund beginnt mit der unglaub­lichen Anspannung deiner sinnlosen Blicke zu tanzen, auch weil du Geräusche hörst, die dir am Tag unbewußt waren und die nun lauter werden mit jeder Sekunde, die wie Schritte oder Schleifen an deinen Seiten hinzu­brechen scheinen … und dir ist dann, als könntest du in die Nacht flüchtende Wesen dir spinnen … oder etwas, das dich lauernd belagert. Du wünschst dir ein Feuer, ein Licht in solchen Momenten; und ein kalt riechender Schweiß bricht dir aus, als würden deine Poren riesige Löcher sein, gigantische Krater, aus denen die Angst schleimig treibt. Du weißt, deine Angst bist nur du, deine Angst kann nur in dir sein; aber du hörst doch die Schritte, das Knacken wie unter schweren massigen Leibern; und du spürst auch den Angstschweiß der Wesen, ihr Stolpern und Fallen, von Weinen und Röcheln verfolgt, als würde eine nach­drängende Masse wie sinnleer durch einen gestürzten Körper trampeln, bis der veratmet und aufgibt, und an seiner Stelle, denkst du, die Schritte jeweils leiser werden. Grauen überfällt dich, du siehst nichts, dich greift panische Angst. Aber du könntest nicht einmal schreien, weil dir jeder Schrei in der Kehle versiegt, und weil, wenn du schreien würdest, die Geräusche um dich sofort verstummen könnten und du nur noch wenige Sekunden ein Aus­einander­stieben hörtest und danach, in dieser raumlosen Schwärze, völlig allein wärst, ohne die Laute, die du fürchtest; noch viel tiefer zu Tode erschrocken. Also schweigst du und setzt dich, möglichst lautlos, in Bewegung, der Richtung folgend, in die du die Flucht vermutest; sicherer nunmehr, auf welchen Wegen du treibst, denn du bist eines der Wesen, das neben Ihm geht, dem großen Erschöpfer, und Er steht und harrt, und Er hört, wenn Stille eintritt, noch wie zur Versicherung, deinen angehaltenen Atem. Und in den Nächten ragen wie Stolper­pfähle, wie die Abgren­zungen zwischen den Reihen, die Gliedstümpfe der Toten ins Nichts, als würde die Maßlosigkeit der Schwärze damit gelindert. Und wirklich, du siehst, wenn du glaubst, dich an das Dunkel zu gewöhnen, von den Stellen, an denen ihre Kniescheiben liegen, ein sanftes phospho­reszie­rendes Leuchten.

 

 

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André Schinkel, porträtiert von Jürgen Bauer

Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.