Die Kiste VIII

 

In diese ernsthaften und schönen Augen hatte er geblickt, hatte sich mal wieder für Momente hoffnungslos verloren, sich in einem Zustand wiedergefunden, der ihm selber unangenehm war. Äußerst unangenehm. Weil er sich so wohl fühlte. Sie waren vor ihm aufgetaucht wie eine Fata Morgana aus längst vergraben gehofften Zeiten. Erinnerungsverzerrt. Doch schon ihre Nähe, ohne sie überhaupt gesehen zu haben, löste viel aus. Als läge eine Spannung in der Luft wie ein Seidengespinst, man musste sich in dieser Atmosphäre einfach verfangen. Wahrscheinlich waren es die Pheromone oder die oft besprochenen aber nie wissenschaftlich bewiesenen Schwingungen, die den Raum angeblich fluten sollen. Vielleicht die mysteriöse Orgonstrahlung eines Wilhelm Reich? Wahrscheinlich aber ist alles wesentlich einfacher zu erklären, wer weiß das schon.

Dieses Lachen, wissend und doch immer mit dem Hauch Kindlichkeit spielend, die nach all den Jahren übrig geblieben war. Diese freundliche Art mit gleichzeitiger, mit abweisender Härte. Schmelz und Vernichtung können so nah zusammenliegen, wie bei einer mit Eisenhut gefüllten Praline. Wenn er diese Frau in seiner Nähe wahrnahm, dann musste er unwillkürlich, ungesteuert an Rose Ausländers Gedicht „Das Schönste“ denken, in dem es in den letzten Versen heißt

 „weil

es nichts Schöneres gibt“

Und an diese Zeilen aus einem alten Lied, die da sagten „keine Schönheit ohne Gefahr und keine Liebe – auch keine Liebe ohne Gefahr“ Nicht nur Situationen können Assoziationen auslösen auch die Anwesenheit von Menschen, das ist schon einmal klar.

Verwirrt sollte er an diesem Abend nach Hause gehen, einen Zettel aus der Kiste ziehen und ihn völlig erschöpft und ungelesen an den Rand des Bettes legen. Am nächsten Morgen erwachte er mit einem Satz, wohl ein Brechtzitat:

„Laßt Euch nicht verführen!“

 

 

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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, Edition Das Labor 2011

Weiterführend →

Dieser short-short gehört zu einer Reihe, die KUNO anläßlich des Erscheinens von Die Angst perfekter Schwiegersöhne präsentiert. Im kommenden Jahr erwartet die Leserschaft ein Zyklus, der nicht in diesem Buch zu finden ist. Das Taschenbuch ist schlüssigerweise kein Künstlerbuch. Was aber, wenn doch ein Originalholzschnitt auf dem Deckblatt der Vorzugsausgabe zu finden sind?

Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus ab 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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