Wilder Garten

Herr Nipp saß auf der Gartenbank, zufriedenen Anscheins, vor der grauen, sonnenbeschienenen Wand des Hausanbaus. Vor Jahren, gemeinsam damals noch, geplant und gebaut, in einem furchtlosen Erweiterungswillen, man würde zusammen alles stemmen können, würde die andere Welt anhalten, eine eigene Welt bauen. Die mit- genommene Tasse Kaffe hatte er ausgetrunken, neben sich platziert und begonnen, in den wild kultivierten Garten zu schauen, angelegt unter altem Eichenbestand in langjährig ständiger Veränderung. Man hatte an diesem Garten gelernt, was wo wohl wüchse, dass nicht alle Stauden es eichenunterständig mögen, andere umso mehr, welche Auswirkungen neuer Mutterboden hatte und vor allem der jährliche hinzugefügte Kompost, reiner Dünger, nicht allzuhoch aufzutragen. Man hatte typische gärtnerische Anfängerfehler gemacht und dafür das sprichwörtliche Lehrgeld bezahlt, ganze stolze Pflanzenbestände hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst. Das alte Gerücht vom sauren Eichenlaub hatte sich dagegen nicht bestätigt, wie jedes andere auch, zersetzte es sich bei richtiger Kompostierung. Wichtig war es dabei, einen vollen Komposter mit einer geschlossenen Fläche von Steinen abzudecken, egal ob Waschbeton oder Natursteine. Diese hielten eine konstante Wärme und Feuchtigkeit für die Kleinstlebewesen und beschleunigten den biologischen Zersetzungsprozess. Herr Nipp beobachtete die kleinen Singvögel beim Zusammensuchen des Nistmaterials für die recht hoch in den Bäumen hängenden Kästen, Blau- und Kohlmeisen, Gartenrotschwänzchen, wie jedes Jahr auch ein Paar Trauerschnäpper. Er mit dem kontrastreichen schwarzweißen, sie mit braunweißem Gefieder. Kleinere Balgereien der Amselhähn- chen, zeternd eifersüchtig. Frühlingswetter, Stimmung vom Schönsten. Die Bäume begannen die Blätter hinauszuschieben, erste Blumen, wie Schneeglöckchen, Krokusse (oder hießen sie in der Mehrzahl Krokanten?) und Winterlinge waren lange verblüht. Die Natur richtete sich wonnig auf den folgenden Mai ein. Die Akeleien hatten bereits seit einigen Wochen beste Anstrengungen angestellt, die gefiederten Blätter in dicken Büscheln nach oben zu drücken, alle Kraft aus den jahrealten Wurzeln zu hervorzuzaubern, die ausgegraben Schwarzwurzeln sehr ähnlich erschienen oder Ginseng, Wunderarznei der siebziger Jahre. Bald würden auch die wunderbaren fünfteiligen Blüten folgen, von dunkelviolett über blau, rosa bis hin zu strahlendem Grünlichweiß. Herr Nipp hatte diese Pflanzen schon seit frühester Kindheit gemocht, sich in den Dolomiten gefreut, wenn er dort die blauen Alpenakeleien gefunden hatte, die erst im Sommer blühen. Das Wiesenschaumkraut legte mit unnachahmlichem Rosaviolett einen feinen Hauch über das langsam wieder erstarkende Gras, löste Gefühle kindlichnaiven Entzückens aus, damals hatte er es geliebt, wenn er im elterlichen Garten schaukelnd Welten eroberte. Auf das Flor der Blütenwiese herunterschauen. Die Buchsbaumhecken hatten ihr hartes und abweisendes Dunkelstgrün mit einem fast übermütigen Schleier frischen Laubs überzogen; Hellstgrün auf dunklem Grund, ein sehr gelungener Farbkontrast, nur schwer aus dem Tuschkasten nach- zuahmen. Auch Hundsrosen und Ebereschen zeigten ihre ersten Chlorphyllfabriken an den grauen Zweigen. Bald würde auch alles Weitere anfangen zu blühen und beginnen die sehnsüchtigen Düfte eines verloren geglaubten Füllezustands des Lebens in die Luft zu strömen. Die verliebten Insekten würden wilde Luftabrobatik zeigen. Wolken von Schmetterlingen und putzigen Käfern ihn ein- hüllen und mittragen. Die Bienen brächten Honig und abends die Amseln ihr partnerschaftlich intoniertes Ständchen, als Wohlklang zum Chor der brütenden Nachtigallen. Diesmal keine Paradiesflucht. Herr Nipp würde sich zwischen den Häusern an Lianen durch die Urwaldschluchten schwingen. Im Wettlauf mit der Schar Affen, die seit einiger Zeit ihre Nester dort baute. Und er bemerkte, wie er in ernsthaftem Disput die Pflanzen davon überzeugte, dass sie Nahrungsmittel waren. Aus dem Dickicht schauen ihn fremde Tiere an, er als Nahrung auf Beinen, er richtet sich für die Nacht ein, baut sich ein Zelt auf, sieht die Myriaden an Glühwürmchen chiffrenartige Zeichen bauen, die ihn an etwas erinnern, das er nicht fassen kann. Die Sterne, zum Greifen nahe, funkeln ihn freundlich an, ziehen ihn zu sich, ein kleines beflügeltes Wesen setzt sich auf seine linke Hand, ganz sacht und lächelt ihm verführerisch zwinkernd zu.

In diesem Moment musste er wohl von der Bank gerutscht sein, eingeschlafen, hatte sich ganz nebenbei einen frühlingshaften Sonnenbrand eingefangen.

 

 

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Seit 1994 veröffentlich Herr Nipp auf KUNO unerhörte Geschichten mit dem Titel Das Mittelmaß der Welt. In 2011 ist es soweit, sein erstes Buch mit dem Titel Die Angst perfekter Schwiegersöhne erscheint in der Edition Das Labor.

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421