Bled ist mehr als ein Ort

 

An Winterabenden sitze ich manchmal an meinem Schreibtisch in Wien vor den Ordnern meines Fotoarchives, schlage meine Aufnahmen von Bled auf – es sind über die Jahre schon sehr viele – und blättere in diesem Bilderbuch. Durch eine Lupe betrachte ich die Gesichter und erinnere mich dabei an jeden einzelnen Augenblick, da ich das Bild gemacht habe. Alle Gesichter und Personen sind aufgehoben in diesem Fotoarchiv, sie sind mir aber auch gut in Erinnerung. Bei manchen Gesichtern halte ich im Schauen etwas länger inne, gedenke der Freunde und Kollegen, die nicht mehr leben, die es nicht mehr gibt; außer in der Erinnerung.

Durch das Glas meiner Lupe lächelt mich Branko Hofman an; Tone Svetina schaut grimmig, Kumbatovič verschmitzt, Mira Mihelič ernst, mein Freund Valentin Polanšek spitzbübisch. Jean Charles Lombard wirkt zerbrechlich. Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung in Bled. In einem Gedicht habe ich sie beschrieben. Ich erinnere mich aber auch gerne an die Lebhaftigkeit der Gespräche in den Kaffeepausen oder bei Tisch, an den vornehmen Empfang in der Tito-Villa, an das zwanglose, herzliche Zusammensein bei den „Picknicks“, bei denen wir immer gut gegessen und getrunken, bisweilen sogar getanzt haben; der weißhaarige, stets galante Igor Torkar tanzt mit der Französin Régine Deforges. Ein Foto zeigt den finnischen Dichter Arto Kytöhonka beim akrobatischen Solotanz; ein anderes Peteris Petersons aus Riga/Lettland, damals noch Sowjetunion, mit dem ich mich später in Wien getroffen habe. Immer wieder habe ich mich mit Freunden aus Bled in Wien oder anderswo getroffen. Und oft habe ich auf die Frage, woher wir uns kennen, dann erklärend gesagt: „Aus Bled!“

Ich habe im Laufe der Jahre in Bled auch viele Adressen gesammelt; auf Visitenkarten, auf Zettelchen. Die meisten aber habe ich sorgfältig in kleinen Adressheften gesammelt, in denen die Namen nach einem Register alphabetisch geordnet sind. Auf dem Umschlag tragen die Hefte Jahreszahlen, so daß ich weiß, wann ich wen in Bled kennengelernt habe. Namen und Adressen sind stets in der eigenen Handschrift der Kollegen und Kolleginnen, so daß diese Eintragungen auch kleine persönliche Dokumente sind. Auf manchen Seiten gibt es Notizen aus Vorträgen und Diskussionen; manchmal auch ein Gedicht von mir. Um die Personen identifizieren und ihnen ihre Porträtfotografien zuschicken zu können, habe ich da oder dort auch Vermerke gemacht, wie: Roter Pullover, weiße Bluse, Brille, Bart, schwarze Haare, goldene Ohrringe, Hut. Manchmal blättere ich diese Hefte durch; dann werden mir die Personen gegenwärtig, auch wenn die Begegnungen mit ihnen schon viele Jahre zurückliegen.

Nach so vielen Jahren erkenne ich, daß Bled für mich eine wichtige und entscheidende Schnittstelle und Drehscheibe war, was sich auch in vielen Übersetzungen meiner Gedichte in andere Sprachen und in fremdsprachigen Publikationen manifestiert. In Bled wurden viele dieser Kontakte vermittelt und geschlossen. Bled ist für mich mehr als nur ein Ort für eine alljährlich dort stattfindende P.E.N.-Konferenz. Bled war für mich von Anfang an eine wichtige Begegnungsstätte mit SchriftstellerInnen und Intellektuellen, von denen viele zu meinen Freunden geworden sind. Ohne die Begegnungen in Bled hätte es viele meiner bis heute wirksamen internationalen Beziehungen nicht gegeben. Jedes Treffen in Bled war wie eine Tür, die sich mir geöffnet hat, die mir geöffnet wurde. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Bled war und ist aber auch jedes Mal das Erlebnis einer wunderschönen Naturlandschaft. Stundenlange Spaziergänge am Ufer des Sees, manchmal nur ein Rundgang in einer kurzen Pause zwischen Vorträgen und Diskussionen, Meinungen und Standpunkten. Immer waren diese Begegnungen mit Gedanken, Meinungen und Menschen Brücken für mich, manchmal zu bisher Unbekanntem und über oft weite Distanzen hinweg; zu anderen Ländern, Kulturen, Ideologien, Gesellschaftsmodellen; zu Glaubenshaltungen, Hoffnungen, Utopien, Illusionen. Ich habe das mir Entgegengebrachte stets bereitwillig angenommen, mich darauf eingelassen, das Gespräch mit anderen gesucht und auch gefunden. Der Dialog ist das Wesentliche für mich an der in diesen Tagen gelebten Gemeinschaft von Dichtern, Schriftstellern, Intellektuellen, die bei aller Gegensätzlichkeit doch ein Bestreben eint, nämlich einander zuzuhören und zu verstehen; vielleicht auch auf manche der Fragen eine Antwort zu finden.

 

 

Peter Paul Wiplinger bei der Internationalen PEN-Konferenz, Warschau 1999

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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.