Mikroblogging

Vieles kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird.

Nietzsche

Technische Neuerungen sind eine Chance für überholte literarische Formen. Bisher bilden die Mikrolithen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Aperçu in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Die Produktion von Ambiguität – was Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte – findet sich in der Kunstform der Twitteratur wieder. Verfremdung bedeutet, die Dinge nicht mehr in ihrer Evidenz darzustellen. Die retardierende Unterbrechung, führt zu einem Staunen, ob der entdeckten Zustände, dass erst die kritische, nämlich nicht mehr in der allgemeinen Evidenz befangene, Stellungnahme des Publikums zu den Vorgängen, wie auch zur Art der Darstellung ermöglicht.

Hypertext bietet eine Erweiterung: Online-Sein heißt Verflüchti­gung, und im Glauben, alles zu erfassen, kann selbst der interessierte Leser doch nur seine Ohnmacht ange­sichts der Zeichenschwemme einge­stehen. Der se­man­tisch entris­sene Text tritt als Fließtext in Kon­kurrenz zu anderen Texten und Bildern, die immer auch auf den eigent­lichen Text als Diskurs­produkt zurückwirken. Auch die Text­intention ändert sich durch die mediale Verschiebung, sodass die Netz-Flüchtigkeit zur Text-Flüchtigkeit wird. Natürlich kennt auch die Welt jenseits der Kunst eine vergleichbare Dichte von Information, vor allem im Internet, wo das Enzyklopädische in kollaborativer Anstrengung zu neuem Leben erweckt wird.

Die Aufgabe von Twitteratur:

• hat Haltung und kann auf die Frage „Wozu“ in einem Satz antworten.

• ist die Haltung der digitalen Naissance

• versteht digitale Technologie als künstlerische Möglichkeit

• versteht sich als Teil der Netzgesellschaft

• ist wagemutig, neugierig, provozierend

• versichert sich reflektierend der Themen der Gesellschaft

• ist vielformatig und lässt sich von neuen Formen inspirieren

• kann Komplexes komplex erzählen

• verwandelt sich vom Industrieliteratur zur fluiden Poesie

• ist kollaborativ und kooperativ, bindet jeden Mitarbeiter künstlerisch ein

• vernetzt sich mit der Welt und ist Zentrum eines künstlerischen Netzwerks

• macht die Organisation des Online-Archivs zu einem künstlerischen Gebilde

Die Kulturnotizen verstehen sich als Ort der Gesellschaft, an dem sich in Gesellschaft über Gesellschaft ästhetisch reflektieren lässt. In dem die Themen behandelt werden, die die Menschen und die Gesellschaft bewegen und zwar mit maximaler formaler Freiheit. Die Themen, die die Menschen zum Lesen bewegen. In der Semantik des paradoxen Humors lehnt sich KUNO gegen die Zumutungen des Daseins auf. Twitteratur ist im Fluß, hier die Hochkultur, dort die Allesverfügbarkeit und auch Allesproduzierbarkeit durch das Internet – dies ist kein Gegensatz, sondern der Beweis für das Langlebige und Überzeitliche der Poesie.

 

 

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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor 2019.

Titelmotiv: Hungertuch von Haimo Hieronymus in de Johanneskirche, Linz

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur, sowie ein Recap des Hungertuchpreises.