Ferdinand Raimund

Einleitung zu einer Sammlung seiner Lebensdokumente

Dieses kleine Buch enthält ungefähr alles, was wir von Raimund wissen, und vermutlich alles, was wir jemals von ihm wissen werden; denn es ist darin Stück für Stück zusammengestellt, was im Lauf der Jahrzehnte ans Licht gekommen ist: das Bruchstück einer Selbstbiographie, die Briefe an die treue Freundin, die Aufzeichnungen der Zeitgenossen, die kleinen, da und dort verstreuten Anekdoten. Dem Volumen nach erscheint es nicht viel, mißt man es aber nach der Wirksamkeit, so ist es eines der seltenen, unvergleichlichen Denkmäler eines Menschen; denn alles daran ist Leben, alles Bild, es schließt sich vollkommen zusammen, wir fühlen, daß nichts Wesentliches fehlt, und die Erinnerung, die davon zurückbleibt, ist nicht wie an etwas Gelesenes, sondern an etwas, das wir selbst in einer halbvergessenen Zeit erlebt hätten.

Es sind Bilder, mit denselben einfachen Farben gemalt wie seine Dichtungen. Es sind lauter kleine Mythen, lauter solche kleine Szenen, in die ein Höheres hineinspielt, oft drohend und finster; sie könnten alle in seinen Stücken stehen, und wie sie an uns vorüberziehen, steht schließlich seine Figur so vollkommen und geschlossen da, daß man glaubt, sie mit Händen greifen zu können. Da ist die Zeit im Elternhaus und der Drang zum Theater; der Zuckerbäckerlehrling, der vor dem Spiegel steht und immer wieder, indem er den Mund gewaltsam verzieht, dem berühmten Intriganten Ochsenheimer ähnlich werden will; und der Vater, der das durch die halboffene Tür sieht, schon krank und sterbend, dem Sohn seinen Fluch gibt. Da ist die unglückliche, leichtfertig geschlossene Ehe, die echte Schauspielerehe, und die lange, treue, manchmal traurige Liebe zu der ewigen Braut; da sind die kleinen Liebesgeschichten: der Sprung in den Mühlbach wegen eines koketten Mädchens und die mißglückte Entführung, die kranke Bürgerstochter, die ihn liebt, von den Eltern abgeschlossen wird und dann stirbt; und die anderen kleinen Geschichten[117] und Bildchen, in denen allen sich etwas Bedeutungsvolles, beinahe Märchenhaftes zusammendrängt in einen Augenblick, die Begegnung kontrastierender Gestalten wie auf der Bühne: der schwarzgesiegelte Brief mit der Nachricht vom Tod einer Geliebten, den man ihm aufs Theater bringt im Augenblick, da er in einer komischen Gestalt hinaustreten soll; die Praterfahrt und der Selbstmörder, der hinterm Gebüsch in seinem Blut liegt; der Bettler beim Schottentor, in Lumpen im kalten Nachtwind, und oben das rauschende Fest bei den Polen in taghell erleuchteten Sälen. Und das Ganze ergibt diese vollkommen einheitliche, mit nichts zu vergleichende Figur: Ferdinand Raimund. Was ist diese Figur? Er ist kein Literat, niemand je war es so wenig. Er ist ein Dichter; er glaubt, es zu sein, und weiß doch auch wieder nicht, wie sehr er es ist. Vor allem ist er dies: ein Kind des Volkes. Darum ist er ein Individuum und ist auch zugleich eine Welt. Die Grenzen zwischen ihm und allem andern, was zu dieser Welt gehört, sind ganz fließend. Er gehört einer Gemeinschaft an: Wien, und er teilt mit dieser Gemeinschaft alles, was er hat. Es ist sonderbar, sich Shakespeare als Gesellen bei einem Fleischhauer vorzustellen oder Molière als jungen Tapezierer, aber es ist natürlich, daß Raimund ein Zuckerbäckerlehrling auf der Wieden oder in Hernals und dann ein Schauspieler in der Leopoldstadt war. Die Einheit aller dieser Dinge ist vollkommen. Weder kann man in ihm den Dichter vom Menschen trennen, noch den Menschen vom Wiener. Von Zeit zu Zeit entstehen solche Individuen, in denen ein soziales Ganzes schicksalhaft und, man möchte sagen mühelos seine Blüte treibt: eine solche Figur war Goldoni; eine solche Figur war Ovid.

Raimund ist nicht der Verherrlicher von Wien; auch nicht einmal sein Schilderer, noch weniger – was später Nestroy werden sollte – sein Satiriker. Er ist das Wesen, in dem dieses Wien irgendwie Geist wurde. Er ist im Grund weder sozial noch antisozial – Nestroy war beides in hohem Grad; er reflektiert nicht; er sieht nicht zusammenfassend wie ein großer Dichter, nicht analytisch wie ein großer Romanschreiber, eher träumerisch. An seiner Produktion wie an seinem ganzen Dasein ist etwas Vegetatives. Das Soziale ist bei ihm weniger Bewußtheit – mit Molière, auch mit Goldoni verglichen, den er als Dichter weit überragt, ist er doch ein unmündiges Kind – als Ehrfurcht und Zutraulichkeit. Sich als einen Teil von Wien fühlen: das ist das Ganze. Alles, was seine schweifende und starkbeschwingte Phantasie erreichen kann, an Wien heranbringen, wie wir alles, wovon wir träumen, irgendwie an uns selbst heranbringen: das ist die einzige Tendenz, die man ihm unterschieben könnte; und noch diese ist völlig unbewußt; er war ein Träumer und Grübler, aber keiner von der Art, daß ihm das Selbstverständliche hätte kalt bewußt werden können. – Er ist Schauspieler, Theaterdirektor, Theaterdichter. Er will gefallen, will unterhalten und gibt sich dabei nicht preis. Er ist innerlich einsam, maßlos empfindlich, leicht verschreckt und geängstigt. Etwas Düsteres steht immer neben ihm. Bald ist es die Mißgunst der Menschen, ihre Gemeinheit, der hämische Neid; bald die Melancholie, die ihn von innen heraus verfinstert. Die Berge ängstigen ihn, vor dem Biß eines Hundes fürchtet er sich sein Leben lang. Am Schluß, einsam und traurig trotz der Freundin, entzückt und geplagt von Träumen, fühlt er, wie eine Hand aus dem Dunkel nach ihm greift; es ist kaum ein Widerstand in ihm – all dieses Dunkel strömt ja aus ihm selber; so ist er schnell dahin. Auch dieser Tod ist unendlich seltsam, so auf der Grenze zwischen furchtbarer und dabei grotesker Wirklichkeit und Märchen mit dem echt Raimundschen Einschlag von Phantasterei, Hypochondrie – ganz nahe dem Handeln und Leiden seiner Figuren. Die Einheit aller dieser Dinge ist vollkommen – und dies gibt ihnen dies eigentümlich Magische. Man möchte denken, daß eine aus lauter solchen Anekdoten bestehende Biographie wie diese unzerstörbar sein müßte – gleich der so viel dürftigeren des »lieben Augustin«; es sei denn, daß das Völkergedächtnis, daß die Einheit des Ganzen abrisse, von der, wie weit sie noch da sei, wir heute nichts Gewisses sagen können.

Es ist der wienerische Volksgeist, ein ungenauer und zutraulich-inniger Geist, an den Raimund alles heranbringt. In welcher Form kann diesem Geist die Welt faßlich gemacht werden? Es ist der Geist einer großstädtischen Bevölkerung im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Wie weit läßt er sich Märchen erzählen? welche? und in welcher Sprache? – Die Märchen, die er sich erzählen läßt, sind die alten ewigen, vom Orient herübergetragenen, die gleichen, die Galland den Franzosen und Gozzi den Venezianern erzählte, aber unendlich vermischt, unendlich durchflochten mit eigenen volkstümlichen Elementen, ganz übermalt mit lokalem Kolorit, ganz erfüllt von lokalem Aroma. Die Sprache, in der er sie sich erzählen läßt, ist eine barocke Sprache, eine Mischung aus dem Höheren und dem Niederen, halb großer Stil, halb die Sprache des wienerischen Hanswurst.

Diese Sprache ist das Element, an dem Raimund zum Dichter wurde; sie war sein Schicksal in jedem Sinn, der Flügel, der ihn emportrug, und die Fessel, die ihn hinabzog.

Im Gebrauch, den einer von der Sprache macht, enthüllt sich der ganze Mensch. Nicht nur die Bildungsstufe drückt sich darin aus, sondern viel zartere Schwebungen, solche, die noch subtiler sind als alles Gesellschaftliche. Wunderbar zeichnet sich die Wesenheit der großen Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer Sprache: ihre Kühnheit und Sicherheit bei so viel Grazie; die freie, männliche Kraft, mit der sie den Ich-Punkt im Universum fühlten, auf dem sie ruhten, von dem aus ihnen möglich schien, die Welt aus den Angeln zu heben; hierin steht Lessing ihnen nahe. Unendlich weit von diesem kühnen, selbstsicheren Element ist Raimunds Sprache. Noch seltsamer ist es, zu denken, daß dies die Sprache eines deutschen Dichters war, ungefähr im gleichen Zeitmoment mit der Sprache des »Westöstlichen Divans«. Der bezeichnende Zug von Raimunds Sprache überall dort, wo sie den Dialekt verläßt, ist Unmündigkeit. Ist es bei anderen Dichtern das schöpferische Selbstgefühl, der Stolz und der Schwung des Geistes, wovon vor allem der Gebrauch der Sprache bestimmt wird, so ist es hier das Gemüt und vor allem die Scheu und die Ehrfurcht. Die großen Begriffe: Einsamkeit, Liebe, Glück, sind ihm Ideale. Die hohe Sprache ist voll hoher Allegorien, zwischen denen sich sein Geist schüchtern bewegt. Die Sprache ist ihm der Tempel der höheren[120] Mächte, die das Leben regieren, der wahre Dichter ein Priester in diesem Tempel. Dem Abstraktum gegenüber, diesem durchsichtigen Gefäß des Geistigen in der Sprache, ist sein Geist vollkommen frei von Skepsis, unberührt von jedem Hang zur Kritik. Dies ist unendlich seltsam im Augenblick, als die Lehre Kants und Fichtes, alles Geistige und Wesenhafte im Außer-ich auflösend, in der vollsten Kraftwirkung stand, eine ganze Jugend, Heinrich von Kleist ihr voran, aus diesem »Becher der Vernichtung« trank. Wunderbar ist es, zu denken, daß in Goethes stilles Studierzimmer, wo keine geistige Regung ungehört blieb, im gleichen Zeitraum jener beständige Schrei der Selbstauflösung drang und die naive gläubige Stimme der Raimundschen Dichtung. Es war nicht nur ein Individuum, sondern eine ganze Stadt, die der Welt für einen Augenblick diesen verschönernden Zauberspiegel vorhielt. Herrliche Elemente waren beisammen, in einer Mischung, die sich vielleicht nur für kurze Zeit erhalten konnte. Das Liebenswürdige war auch noch wahr, das Naive noch nicht trivial; die Dürftigkeit des Lebens selber war Reichtum.

Raimunds Theater hat man oft analysiert. Das Lebengebende daran ist eine eigentümliche Mischung von Naturalismus und Allegorie, geordnet nach einem richtigen Taktgefühl. Die Allegorie kam unmittelbar aus seiner Sprache, vielmehr hierin waren Sprache und Anschauung eines. »Nur eigentliche Schauszenen gehören aufs Theater«, hatte zwanzig Jahre früher Novalis in sein Notizbuch geschrieben, Novalis, der sehr wahrscheinlich nie ein eigentliches volksmäßiges Theater gesehen hatte, aber sich aus der Intuition des Genies die Welt aufbaute. Raimund hat vielleicht keine Szene geschrieben, die nicht aus einer wirklichen Vision hervorgegangen wäre; er ließ sich viel mehr vom inneren Auge leiten als vom Verstand. Das Wort ist bei ihm nie das dialektische Wort, das Um und Auf der Rationalisten und des Philisters; hierin ist er so weit als möglich entfernt von dem andern großen Schauspieler-Dichter, von Molière; so weit als möglich auch von Nestroy, der ein gewaltiger und gefährlicher Dialektiker war. Raimunds Wort ist immer nur ein Pinselstrich und wieder ein Pinselstrich, der die reinste, zarteste Farbe hinsetzt, mit einer kindlichen Scheu vor den zweideutigen Mischfarben der wirklichen Welt, in deren Gebrauch Nestroy stark war. Es liegt auf allen diesen Szenen ein zartes, nicht unwirkliches, aber überwirkliches, fast heiliges Licht wie vom Sonnenaufgang. Man begreift, daß fast alles davon im Freien erträumt ist; man sieht den Dichter, der, ein großes Tintenfaß an einer Schnur um den Hals gebunden, »auf den Bäumen sitzt und dichtet«. So entsteht eine Phantasmagorie, mit der verglichen die reizenden Märchen von Gozzi nur von Theaterlampen erleuchtet scheinen. Wo die Phantasmagorie sich stellenweise verdunkelte, half Raimund, der Schauspieler, nach. Es heißt, daß kein Stück fallen konnte, worin er spielte, wegen der Unerschöpflichkeit seiner Natur. Das dritte Element der wunderbaren Einheit war ein Publikum, so ungebildet als empfänglich, empfindlich, naiv, begierig, zu lachen, und fähig, sich rühren zu lassen. So entsteht ein Phänomen, einmalig, von kurzer Dauer und, wie alles lebendige Schöne, der Analyse spottend: die Blüte der Wiener Volksbühne. Das übrige Deutschland, das kein volkstümliches Theater mehr besitzt, es in seinen Träumen sucht, im sechzehnten Jahrhundert, im Mittelalter, überall und nirgends, wird mit den Augen der Romantik dieses Phänomens als Gegenwart gewahr und wirft einen entzückten und erstaunten Blick darauf: im Licht dieses vergoldenden, wehmütigen Blickes steht das Bild der Wiener Volksbühne im literarischen Gedächtnis der Deutschen, so wie eine Landschaft unter dem Zauberlichte eines letzten, für ewig festgehaltenen Sonnenstrahls.

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

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