Gruppe 47 • Revisited

Was war das? Noch eine literarische Tagung? Oder ein ungewöhnliches Jubiläums–Treffen? Oder gar eine sonderbare Trauerfeier?

Marcel Reich–Ranicki

Nach Angabe des Chronisten des bundesdeutschen Nachkriegsliteratur, Marcel Reich–Ranicki, fand das Abschiedstreffen der Schwiegermutter aller Literaturgruppen, der Gruppe 47, 1977 in Saulgau statt. Das ist 50  Jahre her. Zeit für ein Recap: Eine grobe stilistische Richtlinie galt für die besprochene Literatur: Abwendung von der schwülstigen Sprache des Nationalsozialismus – Realismus, Kahlschlag. Paul Celans in eindringlichem Pathos vorgetragene Gedichte – ein Mitschnitt seiner Lesung zeugt davon – wurden hingegen verrissen. Die Bedeutung von Celans Lyrik nicht erkannt zu haben, darin liegt einer der gröbsten Fehlgriffe der Gruppe 47.

 „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: ‚Das kann doch kaum jemand hören!‘, er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht, ‚Der liest ja wie Goebbels!‘, sagte einer. […] Die Todesfuge war ja ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit“

Milo Dor fügte den Ausspruch Richters hinzu, Celan habe „in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge“. In einem Brief an seine Frau Gisèle kommentierte Celan, Richter sei ein „Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist“, und schloss: „Jene also, die die Poesie nicht mögen – sie waren in der Mehrzahl – lehnten sich auf.“ Trotz solcher Stimmen machte Celan mit dem Auftritt auf sich aufmerksam. Noch auf der Tagung erhielt er das Angebot für einen ersten Gedichtband in einem deutschen Verlag, und bei der abschließenden Wahl zum Preis der Gruppe erreichte er immerhin den dritten Rang. An weiteren Treffen der Gruppe 47 nahm er aber trotz wiederholter Einladungen nicht mehr teil. Dafür weiterhin ein Großsprecher, der sich als SS-Mann entlarven sollte.

Genau betrachtet, war die Gruppe 47 keine Organisation, sondern eher ein Zentrum, ein Sammelplatz, eine drei Tage im Jahr existierende literarische Probebühne.

Marcel Reich–Ranicki

Die Frage muß erlaubt sein, ob Autoren nicht wie jeder andere Mensch auch ein Recht auf Rente haben. Ob nicht einmal die Zeit kommt, da aus den immer wieder apostrophierten „Altmeistern“ einfach nur alte Männer geworden sind. Ob kreative Visionen nicht auch ein Verfallsdatum haben. Wir dürfen uns das fragen, denn erstens ist dies eine ganz normale Frage, und zweitens beantwortet die Realität dessen, was die Altmeister den Verlagen anbieten die Frage selbst aufs deutlichste. Es gibt inzwischen eine ganze Generation, die ohne die Gruppe 47  auszukommen sich angewöhnt hat und auf diese Form der Gesinnungsästhetik, von politischem Erhabenheitskitsch mit vulgär-marxistischem Pathos.

Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man Literatur überhaupt machen kann. Denn wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht.

Peter Handke

Bereits beim Treffen in Princeton zeigte sich, dass die Gruppe 47 zu einem Senioren–Club geworden ist, zu wirklicher Solidarität nicht fähig, weil er tagein, tagaus von Konkurrenzneid getrieben wird. Peter Handke attackiert auf der vorletzten Tagung 1966 die formalen und inhaltlichen Prinzipien der Gruppe 47. Die von ihr favorisierte naturalistische Prosa und ihre Reduktion auf die Beschreibung sei die letzte Flucht schriftstellerischer Einfallslosigkeit, sei „läppische Literatur“. Den einzelnen Mitgliedern geht es oft genug nur darum, ihre Pfründe abzusichern. Unter diesen Umständen mutet die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe nahezu schizophren an. Daß man mit jüngeren Kollegen nichts zu tun haben will, versteht sich fast von selbst: „Mit vorbildlichen literarischen Leistungen. Vorwärts zum 50. Jahrestag der BRD!“ Da meinte man den gespenstischen Nachhall einer untergegangenen Ideologie zu hören. Einen so extremen Unwillen wie in Deutschland, Dinge an die nächste Generation weiterzugeben, kennt man aus keinem anderen europäischen Land. Da steckt eine Kälte, eine Aggression dahinter, die  stutzig und traurig macht. Man merkt deutlich, wie eine Generation von „freiberuflichen Beamten“ die Macht nicht aus den Händen geben will. Ihre Gestaltungskraft erschöpft sich darin, durch geschickte Klientelpolitik den eigenen Einfluß zu sichern. Zum 50. Jahrestag geht es dieser Interessenvertretung nicht anders als den Altparteien der BRD, niemand braucht sie mehr.

Muss man bei der Gruppe 47 auch singen oder braucht man nur nackt vorzulesen?

Arno Schmidt

„Ich habe Grund zu der Annahme“, so Wolfgang Hildesheimer an Richter im Herbst 1966, „dass die Gruppe 47 für die Jüngsten […] nur ein Sprungbrett ist, dessen sie sich bedienen, um zu Erfolg zu kommen, dass also da keine wirkliche Zusammengehörigkeit mehr besteht. Vielleicht kann das auch gar nicht anders sein. Die Mentalität ist eine andere […]. Ich glaube, dass gewisse menschliche Eigenschaften bei den Jüngsten einfach verkümmert sind.“ Ist es ein Zufall, dass aller wirklich bedeutenden Schriftsteller der alten BRD neben Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen nie eingeladen wurden oder nicht kamen, dass Exilanten wie Albert Vigoleis Thelen, Hermann Kesten oder Hans Sahl nie richtig dazugehörten, von Rolf Dieter Brinkmann ganz zu schweigen.

 

 

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Coverart: Almuth Hickl

Zwischen 1995 und 1999 hat A.J. Weigoni im Rahmen seiner Arbeit für den VS Kollegengespräche mit Schriftstellern aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz geführt. Sie arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache. Die Publikation ist zum 30. Jahrestag des VS erschienen.

Dieser Band war als bibliophile, limitierte Vorzugsausgabe erhältlich über: Ventil-Verlag, 55116 Mainz. Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche zuerst ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.