Versehen

 

Die weit aufgeknöpfte Bluse einer jungen Frau, die während eines Motorradrennens ihren üppigen Körper zur Schau stellte, um auf dem Höhepunkt der Spannung und der Gefahr eines solchen Rennens die Aufmerksamkeit eines vom Rausch der Technik ergriffenen Mannes zu erregen, war Anlass und Ziel einer in der Geschichte des Motorsports nie dagewesenen Katastrophe. Die Femme fatale verführte nämlich nicht den Mann, den sie aus lauter Liebe zu sich selbst zum Objekt sowohl ihrer als auch seiner Begierde machen wollte, sondern den auf seiner schnellen Rennmaschine heranbrausenden und in Führung liegenden Weltmeister, der in die gefährliche Schlusskurve der letzten Runde des entscheidenden Weltmeisterschaftslaufs raste. Bei dem Versuch den Blick von den Brüsten, die den dünnen Stoff zu zerreißen drohten, in die blitzenden Augen des schönen Tiers zu lenken, unterschätzte der Fahrer die Gefahr der Kurve. Die rasende Maschine geriet in eine derart extreme Schräglage, dass die Räder auf der Fahrbahn augenblicklich wegrutschten. Der Fahrer, an die umgekippte Maschine gefesselt, schlitterte auf der linken Körperseite über den Boden, der rauhe Beton schürfte den ganzen Arm auf, schliff die blanken Knochen stumpf, ein scharfes Blech im Boden schnitt die Hand ab, das Vorderrad löste sich aus der Gabel und sauste weiter. Als die Knochen des linken Unterarms beim Aufprall auf die Piste zersplitterten, knallte das Rad mit Wucht gegen die Bande, prallte zurück und rollte jetzt dem zweiten in die Kurve schießenden Fahrer in die Quere. Der Fahrer wich aus, versteuerte sich und stürzte, während die Maschine des ersten Fahrers nun über das breite Kiesbett in der Kurve glitt. Dessen Maschine bohrte sich mit der Gabel ins Erdreich, ging hinten hoch und schleuderte den Fahrer in die Luft, die Maschine schlug krachend gegen die Bande, der Fahrer flog in hohem Bogen in die siebte Reihe der Tribüne, wo er mit dem Ellbogen gegen die stählerne Strebe der Sitzreihe stieß und die spitzen Knochen seines zersplitterten Arms ins eigene Herz rammte – als griffe er in seine Brust, um sein Herz herauszureißen. Der Motor heulte, da der Gaszug klemmte, und das rasende Hinterrad rieb die Bande schwarz. Der Mann fiel der erregten Frau sterbend vor die Füße und sank mit dem Kopf zwischen ihre nackten Beine. Die Augen suchten ein letztes Mal das Ziel ihres Unglücks, umsonst, der zweite Fahrer schoss kopfüber durch die Luft, nur etwas höher als der erste, und verlor, als er das Haupt der Schönen zerschmetterte, den Verstand.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.