Blagomir der Knecht

 

Rudnikow, Erzähler unzeitgemäßer Geschichten, erinnerte immer wieder an die nicht einmal so alte Sage von Blagomir dem Knecht, der sich gegen seinen Herrn erhob. Die Bauern steinigten ihn auf dem Dorfplatz vor den Augen aller Dorfbewohner, die sich auf dem Weg zur Kirche befanden, mit Steinen, die sie von ihren Äckern mitgebracht hatten. Die Bauern der Dörfer im Umkreis von sieben mal sieben Werst beteiligten sich an der gesetzlosen Hinrichtung, und sie warfen so viele Steine, bis Blagomir, der Knecht, vollkommen unter ihnen begraben war und der Steinhügel so hoch, dass er in diesem Augenblick zu einem gewaltigen Monument der Abschreckung wurde. Alle Zeugen bewahrten Stillschweigen über die Ursachen und Folgen des Vorfalls, und so weiß bis heute keiner zu sagen, welches unerhörte Verbrechen der Knecht begangen hatte.

Noch am Abend des gleichen Tages gingen die Knechte der Siebenmalsiebenwerst-Dörfer zu dem fürchterlichen Schuldberg, unter dem der Knecht Blagomir lebendig begraben war, und trugen alle Steine nach Hause. Der Berg verschwand, verschwunden aber war auch Blagomir, und es konnte keiner das Geheimnis seines Verschwindens deuten. Die Steine wurden in schweren Koffern fest verstaut und verschlossen, erst zum Gedächtnis der Sühne, dann aus reiner Tradition von Generation zu Generation weitergegeben, bis schließlich keiner mehr wusste, was sich in den schweren Koffern befand.

Rudnikow meinte, diese Geschichte sagenhaften Vergessens sage viel über die russische Seele, vielleicht über die Seele aller Menschen und die übergroße Schuld beim Ertragen des Geworfenseins in ein Leben, das von der Schwere bäuerlicher Arbeit erdrückt zu werden drohte. Man dürfe auch nicht vergessen, dass sich viele russische Bauern bis in dieses Jahrhundert hinein vor dem Pferd und dem Hund ihres Herrn verbeugen mussten. Die Russen, so Rudnikow, tragen lange ihre Koffer voller Steine, zumal wenn man ihnen sagt, es seien Schätze, aber die Zeit sei noch nicht reif, sie werde reifen, sofern man sie nur unverdrossen weiter trage. Wenn die so Vertrösteten erkennen, dass sie betrogen werden, was sie immer schon ahnten, öffnen sie ihre Koffer, alle, und lassen mit den Steinen, schlagartig, die richtigen Köpfe rollen, meinte Rudnikow.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.