Die Macht der Gewohnheit

 

Die Partei, die in der Stadt herrschte, wohnte im Palast der öffentlichen Liebe. Rudnikow ging eines Abends den Weg, den jeder gehen muss, wenn er vor sich und der Welt bestehen wollte.

Zum Tor in der Mitte des Palastes führten links und rechts zwei große Freitreppen, die sich oben vereinigten. Rudnikow stieg die Stufen der rechten Treppe hoch. Vor dem Tor bekam er auf einmal Angst. Wie einfach war die Liebe, die er bisher kannte, wie schwer wurde ihm nun der Schritt in eine tiefere Beziehung mit der Welt. Er trat ein und stand, geblendet vom Licht des offenen Ausgangs auf der hinteren Seite der Halle, wie im Dunkeln. Er ging auf das Licht zu. Er sah rechts, dann auch links, eine Treppe, die nach oben führte. Dort oben, dachte Rudnikow, sind die Schlafzimmer der Partei. Er war ganz aufgeregt und ging weiter ins Licht, bis er erstarrte. Eine noch stärkere Angst ergriff ihn, er taumelte zur Treppe. Erst zögernd, dann immer entschiedener nahm er die Stufen nach oben und verschwand.

Am nächsten Tag ging er wieder in den Palast der öffentlichen Liebe, diesmal schritt er schon weniger ängstlich durch das Tor und das Zwielicht der Halle. Am hinteren Ausgang verweilte er ein paar Augenblicke, bis er sich beruhigt hatte, und stieg dann, nun folgsamer, die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Dieser Vorgang wiederholte sich am nächsten Abend, nur dass diesmal der Umweg zur Hintertür und die Beruhigung kürzer dauerte. Abend für Abend setzte sich diese Entwicklung fort, das Verweilen an der Hintertür verging und ebenso der Umstand, dass sich Rudnikow fürchtete. Der Umweg zur Hintertür nahm immer mehr den Charakter einer Gewohnheit an, und es sah geradezu komisch aus, wie entschlossen Rudnikow auf das Licht der Hintertür zulief, dort ohne Pause kehrtmachte und ebenso entschlossen zur Treppe lief und diese hinaufsprang. Schließlich wurde der Umweg immer kürzer, und als ein Jahr vergangen war, schaute Rudnikow vor der Treppe nur kurz über die Schulter.

Eines Abends ereignete es sich, dass die Partei vergaß das Tor zum Palast der öffentlichen Liebe zu öffnen. Als sie den Fehler bemerkte, herrschte schon tiefe Dämmerung in der Stadt, und als sie endlich das Tor öffnete, drängte Rudnikow durch den Spalt ins Innere, lief sofort zur Treppe und stürzte die Stufen hinauf ohne sich umzuschauen. Da geschah das Erschütternde: Auf dem ersten Treppenabsatz machte Rudnikow plötzlich halt, bekam vor lauter Schreck einen langen Hals, warf die Arme hoch und stieß helle Laute der Verzweiflung aus. Dabei wäre er fast hingefallen. Dann hielt er einen Augenblick inne, kehrte um, hastete die Stufen wieder hinunter und lief wie jemand, der eine dringende Pflicht erfüllt, den ursprünglichen Umweg zur Hintertür. Fast ging er zu weit. Aber mitten in der Tür blieb er, mit einem Bein schon über der Tiefe, im letzten Moment stehen, er starrte in den Abgrund seiner Freiheit, schaute hinauf zum Himmel, wo die Sterne aufgingen, dann kehrte er um und bestieg die Treppe aufs Neue. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb er stehen und schaute sich um. Er schüttelte sich. Dann drehte er sich wieder um und schaute auf – da stand die Partei, die apokalyptische Reiterin, breitbeinig am Rand der Treppe. Rudnikow stieg zu ihr hinauf, wie immer. Kein Zweifel, die Gewohnheit war zum Brauch geworden, gegen den Rudnikow nicht verstoßen durfte ohne von Angst ergriffen zu werden. Die Lust öffnete ihre Arme. Rudnikow springt die Stufen hoch. Die Partei lächelt. Die Partei ist bereit. Rudnikow schließt die Augen. Er ist angekommen. Er ist oben. – Ich renne in ihre Arme wie in ein offenes Messer, dachte er. Und alles war gut.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.