Verhaftet

 

Es war ein besonderes Fest. Entsprechend groß war der Saal für die vielen Gäste. Sie gruppierten sich wie Inseln eines Archipels über der Tiefe des weiten Parketts. Zum Essen spielte ein Keyboardmusiker südamerikanische Melodien zu einprogrammierten Rhythmen. Er hatte eine junge Frau bei sich auf der Bühne, die Noten von einem Stapel nahm und auf einen anderen legte. Sie hob den Kopf, warf die schwarzen Haare aus der Stirn und bohrte böse Blicke in die Tischgesellschaft. Die Blätter flatterten hin und her. Kautsky ließ sie nicht aus den Augen.

Als sich die Eisteller leerten, schritt die Frau im kurzen Rock gereizt auf der Bühne auf und ab, die hohen Absätze schnitten laut ins Holz, sie schob das an einem Stativ befestigte Mikrophon höher, trat hinter den Mann am Keyboard und flüsterte ihm etwas zu. Er stellte die Rhythmusautomatik um und spielte einen rheinischen Walzer. Die Frau spreizte die weißen Arme auseinander, warf die zuckenden Brüste nach vorn, dann stach sie die langen Beine, die aus der Mitte schossen, in den Boden und tanzte mit funkelnder Haut zum Mikrophon. Sie spitzte die Lippen und schloss die Augen. Als sie den Tonkopf berührte, öffnete sie den Mund und sang den Atem heiß ins Metall. Sie schwang im Takt des Walzers hin und her, die Hüften stießen aus dem Lichtkegel ins Dunkel. Aber der schöne Körper der Frau floss nicht in die Töne der Musik. Ihre Stimme zischte in die Luft und zerkratzte sie. Die Feiernden saßen in langen Tischreihen, hörten nicht zu und sahen nicht hin.

Die Frau will Stimmung. Unbedingt und grenzenlos. Sie zieht das Mikrophon aus der Halterung, reißt die Schnur nach vorn und tritt an die Rampe – und als sie ihren Kopf mit spitzen Augen in die satten Bäuche hackt und in den Saal hinein schreit: „Freut euch des Lebens!“, spürt Kautsky, wie die verschütteten Erfahrungen seiner Kindheit wieder aufsteigen, Züchtigung der Eltern, Spießrutenlauf in der Schulklasse.

Die beiden Frauen neben ihm gehorchten dem Befehl von der Rampe sofort, hakten sich in seine Arme ein, schoben und zogen ihn im festen Takt des Walzers hin und her. Die Frauenkörper drangen in ihn ein, oben, unten, Schmerzen überall, ihre allgemeine Liebe ekelte ihn an, ihre Blicke, die ihn soffen, erniedrigten ihn. Der Gesang betäubte ihn, bis er nichts mehr hörte. Die Musik ging aus, das Licht wurde still. Aber in ihm wuchs die unsagbare Angst vor der Nähe der entfesselten Menschen neben ihm, die ihn mit ihrer dumpfen Seele ficken. Sie schlagen mich tot, aus lauter Spaß, und merken es nicht einmal. Er will aufstehen, aber er kommt nicht los von dem Stuhl, auf dem er sitzen bleiben muss. Ich will vor mir weglaufen, ehe ich werde wie die neben mir, aber der Tisch ist die Linie, die Richtung, die mich fesselt, ich kann schreien, wie ich will, keiner hört mir zu.

Die Bilder kamen wieder. Die Sängerin auf der Bühne steckte das Mikrophon in den zum Bühnenhimmel gestreckten Mund, mit beiden Händen öffnete sie zwei Knöpfe ihres Rocks, den sie an den Beinen entlang abtanzte, bis sie mit einem Fuß ausstieg und mit dem anderen Fuß den Stoff zu den Tischen schleuderte. Die rasenden Frauen rissen ihm den Schlips vom Hals, bissen die Knöpfe ab und zogen ihm das Hemd vom Leib. Weil er leben wollte, sang er mit. Er stieß die Töne von sich, die Worte, er schrie sich wund, bis sein Lied rot wurde.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.