Studieren

 

„Ich will auf jeden Fall studieren!“, hielt ihm das gerade einmal vielleicht fast sechszehnjährige Mädchen entgegen. Nein, ihre Aussage erschien ihm wie ein in der Luft hängender Vorwurf. Herr Nipp war darauf gar nicht vorbereitet gewesen, er hatte schon einige Stunden im Zugabteil verbracht, um vom Norden gen Süden zu rollen. Dort in Stuttgart wollte er sich eine derzeit stark frequentierte Ausstellung zeitgenössischer Kunst zu Gemüte führen. In dieser landschaftlich wunderbar gelegenen kleinen Großstadt, die eigentlich nicht gerade bekannt für ihren kulturellen, sondern eher wirtschaftlichen Gehalt war. Für sich so gesehen eine Provinz, war nicht Deutschland überall auf seine ganz eigentümliche Weise eine Provinz? So war er durch die sich langsam verändernde Parklandschaft gefahren, hatte Flachland und Mittelgebirge hinter sich gelassen und langweilte sich fürchterlich, denn das letzte Buch war ausgelesen. Die ordentlich aufgereihten Fichten und Föhren in den zu sehenden Wirtschaftswäldern, die von wenigen Überresten der Buchen- und Eichenhaine abgelöst wurden, konnten ihn auch nicht gerade aus seiner Lethargie reißen. Was also machen, wenn man sich so langweilt? Irgendwann hatte er sein Gegenüber angesprochen, das hier zufällig eben ein Mädchen war. Schulmädchen wohl. Aber am Wochenende konnte man die eine von der anderen Gruppe nur schwerlich unterscheiden. In einer Gesellschaft der oberflächlichen Gleichheit, kann man nur noch an den verwendeten Marken ausmachen, welcher Schicht jemand angehört. Das Aussehen der Kleidung ist gleich, fast gleich zumindest, die Details machen den Unterschied, die Labels müssen außen sichtbar sein. Leider hatte Herr Nipp nur wenig Erfahrung damit, denn Hosen kauft er immer erst dann, wenn wieder eine seiner vier langsam aber sicher in Auflösung begriffen ist und sich darin gefällt, dies darin zu äußern, dass tatsächlich Löcher im Schrittbereich sichtbar werden. Dann suchte er den nächst gelegenen Laden auf und besorgte Ersatz. Er zog die passende Größe (32/34) aus dem Stapel, probierte sie an und freute sich, dass sie passte. Ein leichtes Kneifen in der Pogegend musste da schon einmal hingenommen werden. Das weitet sich mit der Zeit. Immerhin hatte er in den letzten zwanzig Jahren die Größe gehalten. Damals war es wohl modern gewesen, einen lockeren Bund zu tragen.

Weiterhin konnte er wirklich nicht ahnen, dass die junge Dame auf Krawall gebürstet war. In diesem Alter möchte man sich nicht gerne in der Öffentlichkeit mit Greisen unterhalten, auch wenn die gerade mal so um die vierzig sind. Das ist verdammt peinlich. Und von so einem angesprochen zu werden, war ja fast schon eine Beleidigung, da wurde man doch schon fast zu einer Prostituierten abgestempelt. Das mag auch erklären, warum einem klaren Aussagesatz diese aggressive Stimme unterlegt wurde. „Wo würden Sie denn gerne studieren?“ Ein leichtes Lächeln zeigte sich nun auf ihrem Gesicht, fühlte sich das junge Ding doch nun ernst genommen. „Ich werde an der Humboldtuniversität in Berlin studieren.“ Herr Nipp war verblüfft, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet, dass Menschen in diesem Alter bereits so konkrete Pläne haben und sich auch noch über Institutionen informieren. Das ließ sein Bild vom desinteressierten Jugendlichen, der er selber zu jener Zeit gewesen war, doch wanken. Sollte die heutige Jugend wirklich schon so weit verdorben sein, dass die Zukunft in der Pubertät geplant wurde? „Das ist ein total tolles Gebäude, haben Sie das schon mal gesehen?“ „Nein, aber was möchten sie eigentlich dort studieren?“ „Keine Ahnung, was eben so angeboten wird.“

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

 

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