Wider ein Meisterwerk

 

Gäbe es einen deutschen Konservativismus, der auf sich hält, in diesem Buche müßte er seine magna charta erblicken. Seit achtzig Jahren gibt es keinen mehr. Und so sind wir vermutlich der Wahrheit nicht fern mit der Annahme, daß Kommerell kaum eine eingehendere Kritik gefunden hat als die folgende, die ihm von einer anderen Seite begegnet. Dies Buch bringt einen jener seltenen, dem Kritiker denkwürdigen Momente, da keiner ihm die Qualität des Werks, die Stilform, die Befugnis des Verfassers abfragt. Sie alle sind gar nicht anzuzweifeln. Selten ist so Geschichte der Dichtung geschrieben worden: ihre vielseitigen Darlegungen, die scharf gekantete, undurchdringliche Oberfläche jener symmetrischen, diamantenen Gewißheit, die wir seit langem als den schwarzen Stein in der Kaaba der Georgischen Schule kennen. Vom Preis des Blutes, der Verachtung der Musik, dem Haß der Menge bis zur Knabenliebe nicht ein Motiv, das nicht auf lauten oder flüsternden Appell zur Stelle, und nicht gewachsen wäre, seit wir ihm zuletzt begegneten. Die kritischen Maximen, die Wertmaßstäbe, die noch in Gundolfs Schriften so meistersingerlich klappernd gehandhabt wurden, sind hier zum alten Eisen geworfen, vielmehr in der Glut einer Erfahrung dahingeschmol­zen, die auf die hieratische Trennung von Werk und Leben verzichten konnte, weil sie an beiden die physiognomische, im strengsten Sinne unpsycho­logische Sehart bewährt. Darum ist fast alles, was sich über die einzelnen, und weniger noch über ihre Person als über ihre Freundschaften, Fehden, Begegnungen, Trennungen findet, von einziger Genauigkeit und Kühnheit des Blicks. Der Reichtum echt anthropologischer Einsichten ist hier – wie in den Horoskopen, den chiromantischen, überhaupt esoterischen Schriften so oft – zum Erstaunen. Diesen okkulten Disziplinen ist ja die Georgische Lehre vom Heros hinzuzurechnen. Hier hebt sie in den Gestalten des weimarschen Musenhofs bald eine mantische, bald eine panische, bald eine satyrhafte, ja kentaurische Seite ans Licht. Man fühlt, wieviel die Klassiker zu Pferde gesessen haben.

Wie diese Bewegtheit über Gestalten kam, die so bereit sind, in den Posen ihrer Denkmäler zu erstarren? Der Verfasser hielt sich nicht an das Gewesene allein: auch was sich nicht ereignet hat, entdeckt er. Wohlver­standen, er erfindet es nicht – etwa als Phantasiebild – sondern schlicht und deutlich entdeckt er’s, nämlich der Wahrheit nach als ein Nichtgeschehenes. Sein Geschichtsbild taucht aus dem Hintergrunde des Möglichen auf, gegen den das Relief des Wirklichen seine Schatten wirft. Dazu stimmt, daß nichts auf Effekte und Glanzlichter komponiert und das Abgelegene und Dunkle am durchformtesten scheint. Zum ersten Male sind in diesem Werk die großen Gegnerschaften – Jacobis wider den jungen, Herders wider den Weimarer Goethe, Schillers wider die Schlegel, Klopstocks wider den König – gestaltet und erst im Wechselspiel mit ihnen haben die Freundschaften der klassischen Zeit ihr festes Gefüge bekommen. Daß die Darstellung dieser Gegnerschaften parteilos sei, wird man weder erwarten noch wünschen. Wie aber die Akzente fallen, ist für das Werk und seine geheime Absicht bezeichnend. Nichts ist hier Zufall, aber weniges aufschlußreicher als die Vernichtung der beiden Schlegel in einer Konfrontation mit Schiller. Absurd, darin »historische Gerechtigkeit« zu suchen. Es geht um anderes. Die Romantik steht im Ursprung der Erneuerung deutscher Lyrik, die George vollzog. Sie steht auch im Ursprung der philosophischen und kritischen Entwicklung, die sich heute gegen dies Werk erhebt. Sie in den Hintergrund zu rücken, ist, strategisch gesehen, kein müßiges, noch weniger aber ein unverdächtiges Unternehmen. Es verleugnet mit den Ursprüngen der eigenen Haltung die Kräfte, die aus ihrer Mitte sie überwachsen. Jene Klassik, von der wir hier hören, ist eine späte und sehr staatsmännische Entdeckung des Kreises. Nicht umsonst unternimmt sie ein Schüler von Wolters. Jede dialektische Betrachtung der Georgeschen Dichtung wird die Romantik ins Zentrum stellen, jede heroisierende, orthodoxe kann nichts Klügeres tun, als sie so nichtig wie möglich zeigen.

In der Tat: das Buch begründet mit einem Radikalismus, den keiner seiner Vorgänger im Kreise erreichte, eine esoterische Geschichte der deutschen Dichtung. Dies ist Literaturgeschichte nur für den profanum vulgus; in Wahrheit eine Heilsgeschichte der Deutschen. Eine Geschichte, die in Begegnungen, Bündnissen, Testamenten und Weisungen ablaufend, jeden Augenblick droht, ins Apokryphe, Unsägliche und Verdächtige umzuspringen. Eine Lehre vom wahren Deutschtum und den unerforschlichen Bahnen des deutschen Aufstiegs kreist zukunftsschwanger um die Verwandtschaft des deutschen und des griechischen Ingeniums. Der Deutsche ist der Erbe der griechischen Sendung; die Sendung Griechenlands die Geburt des Heros. Es versteht sich, daß diese Griechheit aus allen Zusammenhängen gelöst als mythologisches Kraftfeld erscheint. Auch klingt es wohl nicht zufällig, ob auch leise, an eine berühmte Briefstelle Hölderlins über griechischen Geist und den deutschen an, wenn von der vaterländischen Dichtung gefordert wird das innigste Durchdrungensein von der Art des Stammes, zugleich jedoch der höchste innere Abstand von ihm, und wenn ihre untrüglichste Beglaubigung die Scham genannt wird. Worte die ahnen lassen, welch bedeutende Bildung die Kräfte ins Spiel setzt, die hier an einer germanischen Götterdämmerung dichten. Denn Rune, Deute, Ewe, Blut, Geschick, sie stehen nun, nachdem die Lechter-Sonne, die sie einst in ihre Glut getaucht hat, zur Rüste ging, als eben so viele Gewitterwolken am Himmel. Sie sind es, die jene Blitze uns zu Wegkündern geben, nach denen, wie es Florens Christian Rang, der tiefste Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche, sagt, »Nacht nur um so dunkler uns stickt: diese grauenvolle Weltansicht des Welt-Tods statt Welt-Lebens«. Wie kraftlos aber und wie weitschweifig der phraseologische Donner, der ihnen folgt. Er dröhnt ja in allen Büchern des Kreises. Es nimmt nicht unbedingt für das, was sie lehren, ein, es überzeugt nicht, fühlt man, wie da den Sprechen­den nirgends der Atem ausgeht. »Daß man bei allen Predigern und Werbern – und würben sie für die reinste Sache und predigten sie von nichts als Liebe – schließlich leer ausgeht, weil sie auch den reichsten Menschen nur als Stoff für ihre Absicht nehmen« – diese so meisterhaft von Kommerell formulierte Erfahrung, die Goethe an Lavater zu machen bestimmt war, etwas von ihr vermittelt auch sein Buch dem Leser. Je länger, je mehr zergeht auch das Bild von Hellas im Blendlicht eines Morgen, »wo die Jugend die Geburt des neuen Vaterlandes fühlt in glühender Einung und im Klirren der vordem allzu tief vergrabenen Waffen«. »Durch diese Wirklichkeit«, heißt es an anderer Stelle, »ist unser Wort ›Held‹ noch nicht gegangen … Aber ein noch nicht Wirkliches umwittert dies Wort: wenn die Nachbarvölker ihre Benamung des Helden von den Griechen entlehnen, besitzen wir den selbwüchsigen Wortstamm und damit die Anwartschaft auf das Ding das er nennt. Wird aber unter ihm und in ihr Held zu Halbgott: wer scheute dann noch den härtesten Hammer und die heißeste Esse unsres künftigen Schicksals?«

Blumige Bildersprache? Ach nein; das ist das Scheppern stählerner Runen, der gefährliche Anachronismus der Sektensprache. Ganz kann man dieses Buch nur verstehen aus einer grundsätzlichen Betrachtung des Verhält­nis­ses, welches die Sekten zur Geschichte haben. Nie ist sie ihnen Gegenstand des Studiums, stets Objekt ihrer Ansprüche. Als Ursprungstitel oder Paradigma suchen sie das Gewesene sich zuzuschlagen. So wird hier die Klassik zum Vorbild. Es ist das große Anliegen des Verfassers, an der Klassik den ersten kanonischen Fall eines deutschen Aufstands wider die Zeit, eines heiligen Kriegs der Deutschen gegen’s Jahrhundert, wie ihn George später ausrief, zu konstruieren. Es wäre Eines, diese These zu begründen, ein Zweites, nachzuforschen, ob dieser Kampf siegreich ausging, ein Drittes, zu prüfen, ob er wahrhaft ein vorbildlicher gewesen ist. Für den Verfasser steht eins im andern, aber das dritte an erster Stelle. So zwar, daß er den Kampf als Paradigma ansieht, darum ihn für siegreich erklärt und endlich über seinen Gegenstand, die Stellung der Parteien, sich die Haare nicht grau werden läßt. Ja, wie standen die Parteien? Ist es angängig, diesen kom­plexen und gerade in seiner Komplexion – Goethe zeigt es – so be­drücken­den Vorgang auf das Spiel und das Widerspiel des Heroischen und des Platten zu reduzieren? Es gibt Heroisches genug in den Männern der Klassik: sie selbst war alles andere als eine heroische, sie war eine resignierende Geisteshaltung. Und keiner als der einzige Goethe hat sie bis ans Ende, ohne zu zerbrechen, behaupten können. Schiller und Herder sind an ihr zugrunde gegangen. Und was außerhalb Weimars blieb, nicht zuletzt Hölderlin, verbarg vor dieser »Bewegung« sein Haupt. Goethe aber – sein Gegensatz gegen das Zeitalter war der einer restaurativen Herrschernatur. Deren Quellen flös­sen nicht aus irgendeiner antiken Vergangenheit, sondern aus dem Urgestein ältester Macht – ja ältester Naturverhältnisse selber. Schiller dagegen konstruierte historisch den Gegensatz. Seine restaurative Haltung war Gesinnung und von Ursprünglichkeit weit entfernt. Kommereil weiß das alles so gut wie ein anderer. Aber es gilt ihm nichts. Es ist, als ginge ihm die Antike und damit die Geschichte überhaupt mit Napoleon, mit dem letzten Heros, zu Ende.

Die Größe dieses Werks ist freilich gänzlich an solche Anachronismen gebunden. Denn es nimmt die große Plutarchische Linie der Biographik von neuem auf. Damit ist weiter noch als sein Abstand von der Gundolfschen Dichtergeschichte der von der neueren Modebiographik eines Ludwig. Plutarch stellt seinen Helden bildlich, oft vorbildlich, immer aber dem Leser durch und durch äußerlich hin. Ludwig sucht ihn dem Leser, vor allem aber sich, dem Autor, innerlich zu machen. Er verleibt ihn sich ein, er saugt ihn auf, es bleibt nichts. Der Erfolg solcher Werke liegt darin: sie verhelfen einem jeden zu einem kleinen »Inneren Napoleon«, einem »Inneren Goethe«. Wie man geistvoll aber richtig bemerkt hat, daß es wenige Leute gibt, die nicht einmal im Leben aufs Haar Millionäre geworden wären, so kann man von den meisten sagen, daß ihnen die Gelegenheit, ein großer Mann zu werden, nicht gefehlt hat. Ludwigs Geschicklichkeit ist, seine Leser auf schlüpfrigen Pfaden zu diesen Wendepunkten zurückzuführen und ihr verwaschenes, abgelebtes Dasein als großen Aufriß eines Heldenlebens ihnen vorzuführen. Wenn Kommerell das Bild eines Goethe heraufruft, so teilt es keinen Augenblick die Luft, geschweige denn die Stimmung des Lesers. So kann es geschehen, daß in der Entwicklung des Goetheschen Jugendlebens – »Der Wanderer und seine Gesellen« – das Werk hin und wieder die Dignität eines Kommentars zu »Dichtung und Wahrheit« hat. Goethes Jugend so unter den Begriff der Auseinandersetzung mit den Formen des zeitgenössischen Führertums zu stellen ist mehr als aufschlußreich. Hier liegt der Grund zu seiner Darstellung von des Dichters Verhältnis zu Carl August, das er als den exemplarischen Fall der Menschenbildung und Erziehung in Goethes Leben erkennt und noch in den Beziehungen zu Napoleon und Byron beziehungsvoll widergespiegelt findet, einem Abschnitt, der zu dem wenigen Erleuchteten gehört, das über Goethes Leben geschrieben ist. Daß das Verhältnis »Fürst und Dichter« hier historisch und nicht nur zeitlos-mythologisch ergriffen würde, und daß zutage träte, was denn sein Besonderes im deutschen Staat um siebzehn­hundertachtzig war, wird man billig hier nicht erwarten. Es bleibt genug. Der Ton, in dem Schelling den alten Goethe in seinen Briefen anredet, so atemstockend in einer Ehrfurcht, der der Tod noch nichts von ihrer Bürde genommen hat. An solchen Stellen ist die »Deute« umgeschlagen, und auf der Höhe ihres Wagemutes und Gelingens zum schlichten, objektiven, untrüglichen Lesen geworden. Der Verfasser nimmt gelebte Stunden zur Hand wie der große Sammler Altertümer. Es ist nicht, daß er darüber redet; man sieht sie, weil er sie so wissend, forschend, andächtig, gerührt, abschätzend, fragend in der Hand dreht, sie von allen Seiten anblickt und ihnen nicht das falsche Leben der Einfühlung, sondern das wahre der Überlieferung gibt. Aufs engste dem verwandt ist des Verfassers Eigensinn; ein sammlerischer. Denn wenn beim Systematiker das Positive und das Negative immer gründlich und weltfern auseinanderliegen, stoßen beide – Vorliebe und Verwerfung – hier eng aneinander. Ein einziges Gedicht aus einer Liederreihe, ein einziger Augenblick aus einem Dasein, wird herausgehoben, und der Verfasser scheidet scharf Personen und Gedanken, die gesinnungsmäßig sehr nahe verwandt scheinen.

Wie wenig er im Grunde es wagen kann, eine »Rettung« der Klassik zu unternehmen, beweist am besten das Kapitel »Die Gesetzgebung«. Nicht umsonst zeigt es, wie gänzlich wir dem entfremdet sind, was Goethe auf seiner Italienreise die Offenbarung der antiken Kunst brachte; wieviel Rokoko selbst in seinem Werke verborgen ist, und wie unannehmbar wenn nicht die Maximen, so die Musterbilder seiner Kunstkritik sind. Kommerells Bild der Klassik, sofern es bleibend ist, lebt aus dem Herrschaftsanspruch, den er in ihr erkennt. Die Ohnmacht dieses Anspruchs aber gehört so gut zu ihrem Bilde wie seine Titel. »Bis heute«, sagt der Verfasser, »hat der durchschnittlich Gebildete das A und O der Weimarer Bildung nicht voll begriffen und bedeckt eine schimpfliche Blöße mit den theologischen philosophischen musikalischen Abzeichen des Bettlerstolzes: jenseits vom Scheine zu stehen.« Wenn das wahr ist – und es ist wahr – so muß wohl eine gewaltige Mißverständlichkeit, ja Zweideutigkeit in ihr selber gelegen haben. Mißverständlich – sie war es in so schrecklichem Maß, daß, als um die Jahrhundertmitte das Spießertum entschlossen dem edelsten Erbe des Volkes den Rücken kehrte, es das im Namen seines Schiller tat, und daß, um Zweifel an der Vereinbarkeit des Geistes von Weimar und Sedan zu fassen, es eines Nietzsche bedurft hat.

Folgerecht, daß des Verfassers Schlußwort über die Klassik wiederum Sternen- und Schicksalsweisheit zu bleiben verurteilt ist. »So reifte uns ein schwer deutbares Geschick wie keinem andern Volke: die Teilung der Herrschaft und ein doppelter Augenblick, der offene und der geheime. Hölderlins Überwältigungen durch den Zeitgeist – obwohl unter dieselbe Jahrziffer fallend – gehören in eine andre Ewe: sein Augenblick ist nicht minder wahr, deutet aber auf eine andre Mitte als der Augenblick Goethes, und die Traumgestalten Jean Pauls scheinen nur solange blutlos bis ihre irdischen Brüder über unsern Boden gehen. All dies regte sich in rätselhafter Fülle im deutschen Umkreis zweier Jahrzehnte und an unsrem Geisterhimmel stand zugleich eine Tagessonne ein Morgenrot und die ewigen Sterne.« Das ist wahr, schön und bedeutend. Wir aber müssen gerade im Angesicht solch blumenhaft offenen, blumenhaft flammenden Blicks zu der unansehnlichen Wahrheit, zum Lakonismus des Samens, der Fruchtbarkeit uns bekennen, damit aber zur Theorie, die den Bannkreis der Schau verläßt. Gibt es zeitlose Bilder, so gibt es zeitlose Theorien gewiß nicht. Nicht Überlieferung kann über sie entscheiden, nur die Ursprünglichkeit. Das echte Bild mag alt sein, aber der echte Gedanke ist neu. Er ist von heute. Dies Heute mag dürftig sein, zugegeben. Aber es mag sein wie es will, man muß es fest bei den Hörnern haben, um die Vergangenheit befragen zu können. Es ist der Stier, dessen Blut die Grübe erfüllen muß, wenn an ihrem Rande die Geister der Abgeschiedenen erscheinen sollen. Diese tödliche Stoßkraft des Gedankens ist es, welche den Werken des Kreises fehlt. Statt es zu opfern, meiden sie das Heute. In jeder Kritik muß ein Martialisches wohnen, auch sie kennt den Dämon. Eine, die nichts als Schau ist, verliert sich, bringt die Dichtung um die Deutung, die sie ihr schuldet, und um ihr Wachstum. Nicht zu vergessen, daß die Kritik, um etwas zu leisten, sich selber unbedingt bejahen muß. Ja, vielleicht muß sie – man denke an die Theorien der Brüder Schlegel – sich selber den höchsten Rang geben. Davon ist der Verfasser sehr weit entfernt. Der Denker nach seinem Bilde ist »für immer aus der schöpferischen Unschuld des Künstlers verwiesen«. Daß niemals Unschuld Schöpfertum bewahrt, wohl aber Schöpfertum die Unschuld immerfort erschafft, auf diese unbekümmerte Wahrheit kann sich der Schüler Stefan Georges nicht einlassen.

Ein Hölderlin-Kapitel beschließt diese Heilsgeschichte des Deutschen. Das Bild des Mannes, das darin entrollt wird, ist Bruchstück einer neuen vita sanctorum und von keiner Geschichte mehr assimilierbar. Seinem ohnehin fast unerträglich blendenden Umriß fehlt die Beschattung, die gerade hier die Theorie gewährt hätte. Darauf aber ist es nicht abgesehen. Ein Mahnmal deutscher Zukunft sollte aufgerichtet werden. Über Nacht werden Geister­hände ein großes »Zu Spät« draufmalen. Hölderlin war nicht vom Schlage derer, die auferstehen, und das Land, dessen Sehern ihre Visionen über Leichen erscheinen, ist nicht das seine. Nicht eher als gereinigt kann diese Erde wieder Deutschland werden und nicht im Namen Deutschlands gereinigt werden, geschweige denn des geheimen, das von dem offiziellen zuletzt nur das Arsenal ist, in welchem die Tarnkappe neben dem Stahlhelm hängt.

 

 

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Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, von Max Kommerell. Berlin: Georg Bondi 1928

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