Was die Lyrik betrifft

Ihr Wert, ihre Bedeutung und Stellung in Österreich

Vorweg muß gesagt werden: Eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema, eine statistische Datenerfassung, eine Vergleichsstudie gibt es nicht, ist weder mir noch anderen bekannt. Also muß ich mich bei meinen Betrachtungen auf meine Eindrücke und Erfahrungen, sowohl als Lyrik-Autor als auch als Lyrik-Leser, beziehen und verlassen, bei meinen Fragen und Antwortversuchen davon ausgehen. Das bedeutet natürlich, daß das hier Ausgesagte und Übermittelte subjektiv, segmentarisch, unvollständig, unvollkommen und somit auch ergänzbar, angreifbar, ja vielleicht sogar widerlegbar ist. Würde man heute in Österreich auf die Straße gehen und Passanten fragen, welches Gedicht oder welche Gedichtpassage sie auswendig kennen oder welchen Gedichtband sie geradelesen, so würde man, denke ich, nur erstauntes, hilfloses Kopfschütteln ob der Unbegreiflichkeit einer solchen Frage bekommen. Gedichte – das kommt in ihrem geistigen Mobiliar nicht vor; Fernsehserien, Klatschgeschichten, propagandistische, manipulative Medienberichte: ja, das schon. Gedichte – nein, Literatur – kaum, Theater – vielleicht. Hier geht es nicht um Bildung, um Bildungsunterschiede im Sinne einer Klassengesellschaft. Meine Aussage trifft auf alle zu. – Welche Gedichte lesen heutzutage die Hektiker des Geschäftslebens, welche die Arbeitslosen, welche die Rentner, welche die Schüler und Studenten? Lesen sie überhaupt Gedichte? – Ich glaube: nein. Dieser Fragenkomplex ist ganz entscheidend mit dem gestellten Thema und seinen Tatsachen und Problemen verbunden, von ihm her kommen die wesentlichen Antworten, die sich in der Gesamtheit auf die lapidare Feststellung reduzieren lassen: Für Lyrik gibt es keine Lesermehr, jedenfalls kaum noch in der breiten Öffentlichkeit. Und so gibt es sie auch nicht mehr oder kaum noch im ‘literarischen Gedächtnis’. Die Poesie stirbt aus, verschwindet; aus dem Leben, aus der Literatur. Das ist noch nicht Tatsache, aber Ansatzpunkt einer möglichen Entwicklung, jedenfalls befürchte ich dies. Die Zukunft, ja längst schon die Gegenwart, gehört der Medienwelt, dem real existierenden Bild, nicht dem innerlichen, imaginär geschauten, das auch ein Dichter uns in seinem Gedicht übermittelt, das wir empfangen, an dem wir weitergestalten mit unserer Phantasie. Die Zukunft, die Gegenwart gehört der Informatik, nicht der Poesie. Man will Fakten, hantierbare, verwertbare Daten; eine faktenabgesicherte, nicht eine erklärungsbedürftige Welt; denn eine solche verunsichert. Und das können wir uns nicht leisten. Also: Keine Poesie! Das scheint mir die Erklärung dafür, daß Poesie – außer für den, der sie schreibt und ein paarseiner Freunde sowie ein paar ganz wenige ‘Exoten’ – nicht mehr gebraucht wird; auch nicht zur eigenen Orientierung, geschweige denn für mehr. Poesie hat keinen Nutzen, ist nichts Praktisches. Sie ist etwas Überflüssiges, Verzichtbares; längst schon etwas Unbegreifbares, Unverständliches, Fremdes. Junge Reisende sieht man mit einem Walkman, ältere mit Analphabeten-Bildchen-Zeitungen – oder mit gar nichts; aber kaum noch mit einem Buch, geschweige denn mit einem Gedichtband. So etwas gehört nicht mehr zu den Reiseutensilien, zu den lebensbegleitenden, notwendigen, unverzichtbaren Gebrauchsgegenständen, die man nach einer gewissen Zeit zu lieben beginnt, sein eigen nennt, die zu einem selber ganz einfachgehören. Natürlich gibt es auch in Österreich noch Lyrik – so wie seltene Alpenpflanzen etwa. Sie steht auch unter einem besonderen Schutz: Unter dem der staatlichen Förderung durch Subventionen. Ohne diese wäre sie wahrscheinlich bereits ausgestorben. Aber Stellenwert im Bereich der Literatur, der Rezeption von Literatur, auch der Literaturwissenschaft hat sie – mitwenigen Ausnahmen – kaum noch, Marktwert in Bezug auf den gesamten Buchmarkt und was die Verkaufszahlen betrifft sowieso überhaupt nicht; das ist nicht der Rede, weil nicht des Lesens wert. In den Prospekten der Verlage und Verlagskonzerne dominieren das Sachbuch, der Roman, die Prosa. Genauso ist es mit den Buchauslagen der Buchhandlungen. Der Buchmarkt wird – wie jeder andere Markt auch – gemacht; von Produktmanagern, Lobbys, Kritikern. Die Tagesaktualität oder das Modische oder – am besten – das Sensationelle bestimmen eben auch den Verlags- und den Buchmarkt. Da und dort gibt es sogenannte Marktnischen, da gibt es – natürlich auch wiederum nur am Rande und sehr spezifisch – Lyrik; wie Exotica in einem Glashaus. Oder es gibt auch – und dies in den letzten Jahren immer mehr und immer häufiger – bestimmte Verlage, Kleinverlage, Miniverlage (mit oft nur einer Personals Verlagskapazität!), die sich auf Lyrik spezialisiert haben, die abseits vom Marktproduzieren, existieren; die Frage ist immer: wie lange? Eine Alternative, ja eine Gegenweltwurde so in den letzten Jahren in der österreichischen Verlagsszene aufgebaut, eine, die auch unabhängig ist, unabhängig sein will von den großen Verlagen in Deutschland, in denen früher von bekannten und arrivierten österreichischen Autoren – sozusagen als Nebenprodukt- auch mal Lyrik erschien. Jetzt erscheint solche Lyrik immer öfter in sogenannten „österreichischen Kleinverlagen“, auch in Einmann-/Einfrau-Verlagen, auch in der Provinz(„Bibliothek der Provinz“). Unbekannten österreichischen Autoren bleiben – so wie immer -auch unbekanntere österreichische Verlage und Publikationsinstrumentarien, die sich als Verlage bezeichnen, weil sie sich selber gerne als solche sehen und einstufen, auch wenn sie nichts weiter tun, als gegen Bezahlung ein Manuskript zum Druck zu befördern; das Buch muß dann der Autor selber irgendwie vertreiben, verkaufen; bei Freunden, bei Lesungen, bei irgendwelchen sonstigen Veranstaltungen, am ‘Flohmarkt’ vielleicht. So ist das eben mit der Lyrik, mit den Dichtern und den Dichterinnen. Sie werden subventioniert, manchmal sogar preisgekrönt, aber gebraucht und gelesen werden sie nicht; geachtet – als Künstler – sowieso nicht; jedenfalls nicht in der österreichischen Gesellschaft, nicht in diesem Land.

 

 

***

Referat zum Thema „A New Deal For Poetry“ bei „The First Round Table Of European Poetry“ der Finnish Writer’s Union, Helsinki, 4.-6. Juli 1997.

Photo: Gerald Ganglbauer

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Post navigation