Traumpoesie

 

Du: „Man ist, was man träumt.“ Platon.

Ich: Generelle Frage: Stehen literarische Fiktionen (ungefähr) auf der Ebene des Traums?

Du: Es gibt Tagträume, Klarträume, Wunschträume, so eine Art Fantasie in schläfriger Form. Aufgeweckt wird Text daraus. Keine Ahnung, ob ich richtig liege.

Ich: Meine Frage war: Ob sich geschriebene Fiktionen so ähnlich verwirklichen wie Träume? Es geht wieder einmal um das Verhältnis Autor / Text.

Du: … Selbstredend zählte die „Traumdeutung“ zu Freuds wichtigsten Werken, wenn nicht dem wichtigsten überhaupt. Und er selbst meint, dass sie die Via regia zum Unterbewußten sei. Er geht noch weiter und erklärt, sie sei „…die sicherste Grundlage der Psychoanalyse.“ Manche Indianerstämme halten Träume für das wahre Leben und das Sichtbare nur für Trug. Vielleicht hat der Eros der Sprache seinen Ursprung im Traum. Das Spiel des Geschlechtlichen, in das sich alles und jedes sublimieren lässt, ist auch ein Sehen, das sich im Angesehenwerden spiegelt. Es gibt ja mittlerweile eine lebhafte Klartraumforschung in der Psychologie bis hin zum dem Fakt, dass man Träumen „lernen“ kann, ergo kann man auch lernen die literarische Fiktion gezielt aus Trauminhalten zu speisen. Vielleicht gibt es ein literarisches Träumen…
Ich: … Parallelisierung Traum // schreibendes ErLösen der eigenen Irrationalität. Mit meiner Frage war gemeint, ob der Schreibende im Schreibakt Fragmente aus dem Unterbewusstsein hebt, du nennst es literarisches Träumen. In der Tat spüre ich, dass es (Es) mich manchmal zum Schreiben bringt, oder dass es (Es) sich (ab)schreibt, wenn ich schreibe. Und genau das lässt sich auch forcieren wie das Träumen. Wenn ich Träume aufschreibe, wenn ich sie erwarte, dann träume ich mehr. Wenn ich schreibe, träume ich mitten im Wachsein, so mein Gefühl. Allerdings sind diese Schreibwachträume nicht so bildreich, nicht so stark wie die Schlafträume – und doch bin ich in der Lage, den Keim des Schreibwachträumens im Schreibakt wachsen zu lassen, und ich erreiche dann manchmal Traumqualität. Es schreibt dann in mir von ganz allein, so geht das über einige Sätze, und der Rest ist dann die Ergänzung, Prolongation oder Extrapolation des so Angeträumten… In so einem Schreibakt schaue ich mir sozusagen beim Träumen zu, ohne zu wissen, dass ich träume. In dem Moment, wo mir bewusst wird, was ich wach traumschreibe, verliere ich die notwendige Unbefangenheit und bin dann in der Bearbeitung und ÜberFormung dessen, was sich mir fast wie von selbst schrieb.
Es geht nicht immer, aber es geht und ich spüre es im Wackelkontakt der Bewusstseinswechsel. Auch diese Bewegung erscheint mir dialektisch.
Du: Das trifft mein Gefühl beim Lesen Deiner Texte ziemlich genau. Die teils seidenweichen Sequenzen, dieses Rausrutschen aus der Vernunft in Traumähnliches und natürlich die durch die Ratio bei vielen tabuisierten und gesperrten Themen, die sich bei Dir scheinbar mühelos hochspülen, sprechen schon für zumindest starke Perforierungen der Grenzflächen, ohne dass man dem pathologische Qualitäten zuschreiben muss, denn eine strukturelles Ganzes bleibt bei Dir immer gewahrt. Elias

Ich: Die Hirnforschung weiß noch nicht viel, was wir für diese Diskussion verwenden könnten. Ich vermute allerdings, dass das Schöpferische nicht aus dem Nichts kommt, sondern im Körper (im Hirn) angelegt ist und evozierbar ist. Im Tun selbst mag es dann oft so aussehen, als ob das Kreative dann erst entsteht, also vorher nichts war. Aber dagegen halte ich, dass dieses Tun, also die Disziplin oder Selbstdisziplin in der Formung des Materials, selber zu einem Teil Schöpferisches enthält, sodass vielleicht der gesamte Prozess der Kunstentstehung, ob er nun dialogisch oder dialektisch genannt wird, ein kreativer Prozess ist. Die bewusste Formung ist dann kein Widerspruch, sondern Bestandteil des Kreativen. Weiterhin gilt aber, dass Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle, Vorstellungen, Ahnungen usw. zu einem (möglichst kosmischen) Werk gestaltet werden sollten, jedenfalls solange wir Kunst als unbewusst und bewusst gestaltete Arbeit begreifen. Ich denke, dass der, der ein wenig kreative Begabung hat, durch Vervollkommnung des Handwerklichen (also auch Vervollkommnung des Sprachlichen, also der Verfügbarkeit der sprachlichen Umsetzung von Eingebungen) mit der Zeit Kreativität steigern kann.
Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet, kein Psychologe. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung heraus schreiben, und ich gründe meine Auffassung auch auf Schilderungen einiger Kollegen. Ich sehe den Schreib-Prozess bei belletristischen Werken als ein dialektisches Wechselspiel von provozierten kreativen Eingebungen und ihrer Disziplinierung (bewusste Steuerung), das ich während des Schreibens, meist in mehreren Phasen, überschaue, bremse, aufhebe, steigere, und dass der Ablauf dieses Gesamtprozesses selber wieder, auf einer höheren Ebene, kreativen und bewussten Aktionen unterliegt. Ich denke, dass in der Regel die Bewusstmachung und Steuerung (das was ich Disziplin nenne, Beherrschung des Schreibprozesses) für die Entstehung eines Kunstwerks notwendig ist.

Oft kann das dialektische Wechselspiel von schöpferischer Idee und Disziplinierung einem Schreibprozess vorausgehen, in dem diese Dialektik verschwindet oder zu verschwinden scheint. Ich denke an Bilder, die Picasso oder andere Künstler malten, denen viele Skizzen vorausgingen – so dass sich sagen lässt: Ein vermeintlich schnell hingemaltes Bild oder ein runtergeschriebener Text ist das Ergebnis desselben Prozesses, nur ist er hier anders strukturiert. Man könnte dann das so entstandene Werk eine Variation oder Kopie der Summe dieser Vorstudien nennen. Die meisten Texte müssen erarbeitet werden. Der Maler Max Liebermann sagte, als man sein Genie lobte: 1 Prozent Inspiration, 99 Prozent Transpiration.

 

 

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Weiterführend → KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.