Rollatorweg

 

Das Wetter hatte geradezu dazu eingeladen. Herr Nipp hatte sich sein Fahrrad geschnappt, er war durch die Landschaft geradelt, hatte einige Berge geschafft, ganz stolz, denn bekanntlich ist er kein großer Sportler. Haust lieber in den eigenen vier Wänden und lässt jedermann einen guten Mann sein. Doch jetzt war es nicht anders gegangen, als eben zu fahren. Das Fahrrad hatte sicherlich an die dreißig Jahre auf dem Buckel, aber das musste egal sein. Die Mäntel und Schläuche runderneuert, sogar die Lichtanlage hatte er renovieren lassen. Auch bei hellem Wetter leuchtete nun das Rücklicht. Sicherheit geht vor, denn Fahrradfahrer töten nicht, sie werden getötet – von Autofahrern. Und Herr Nipp hatte am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn man vom Auto überrollt wird. Seine Mutter hatte diesen Tag immer als seinen zweiten Geburtstag bezeichnet, er hatte damals überlebt und das war wichtiger als alles andere gewesen. Eigentlich war dieser Unfall daran schuld, dass er niemals wieder gerne den Drahtesel bestieg. Immer ein ungutes Gefühl hatte, wenn ein unvorsichtiger Kraftfahrer ihn knapp schnitt. Dieser unweise Wehrpflichtige hatte damals eine zig Meter lange Bremsspur hinterlassen, bevor es zum Aufprall kam, bergauf. Jedes Mal wenn das Wetter umschlug, musste Herr Nipp an diesen Menschen denken. Jedes Mal wenn dieses ungute Gefühl in der langen Narbe des Oberschenkels hochstieg und manchmal zum nagenden Schmerz wurde.

Nun aber genoss Herr Nipp die Landschaft, freute sich über die netten Laubverwehungen und konnte sich fast am Farbspiel berauschen, dabei ging es hart auf den November zu. In einem der Täler, die er durchquerte fanden sich recht ansehnliche Felsen und tatsächlich sah er einige Freikletterer mit ihren Gurten und Seilen in den Wänden hängen. Einige seilten wohl nur ab, Angsttherapie. Andere versuchten sich an den verschiedenen schwierigen Touren in allen Lagen, Verschneidungen, Kamine und sogar leichte Überhänge waren da zu beobachten. Herr Nipp stellte sein Fahrrad ab, erklomm den Anstieg bis zum Fels und guckte den jungen und mittelalten Männern und Jungen fasziniert zu. Ganz selbstverständlich wurde mit ruhigen Bewegungen das Seil geordnet. Alles schien hier ruhig und konzentriert, aber sehr entspannt gemacht zu werden. Klettern ist ein Sport für Intelligente, für Genießer, Romantiker und Menschen, welche die Natur zu schätzen wissen, die äußere wie die eigene.

„Sollen wir noch Hüte machen Deppen machen?“ Herr Nipp traute seinen Ohren nicht, was sollte das sein? „Nein, ich kann die nicht vorsteigen und Toprope ist doch doof.“ „Aber Hüte machen Deppen ist doch eine coole Tour.“ Die beiden mittleren der Gruppe konnten sich nicht einigen. In diesem Moment begriff Herr Nipp, dass mit „Hüte machen Deppen“ eine recht schwierige Tour gemeint war. Schwierigkeitsgrad sieben. Nur für extrem gute Steiger. Kletterer hatten eben einen wirklich besonderen Humor. „Wenn ich mal eine Sieben in Erstbesteigung klettern würde, dann hieße die hinterher ‚Rollatorweg‘.“

     

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421