SARAH. IM SOMMER IST DIE ERDE LEICHT

 

11.11.2000

Die Operation war schwer. Der Tumor wurde radikal herausgeschnitten. Tage lang habe ich geweint tief in die Nacht, die Sterblichkeit der allernächsten Freundin und Geliebten, die eigene Endlichkeit, stand mir vor Augen. Langsam verging der Hass gegen den ersten Schlag des Todes, der die Würde mit Füßen tritt und das Recht auf Selbsterschaffung zur Seite fegt. Jetzt bin ich fester und klarer. Es ist noch nicht das Ende, das Ende des Träumens, das zu mir gehört, die kleine Utopie meines einen Lebens. Ich behalte alle meine Pläne. Aber der Diskurs mit dem Tod wird härter, strenger, kälter, heftiger, immer näher, Auge in Auge, Doppelatem.

16.12.2003

Wir sind uns näher als zuvor. Ich werde in Änderungen hineingetrieben. Ich ahne, für Sarah und mich heißt das: Lern das Schwerste anzunehmen, hinzunehmen. Gestalte, was sich gestalten lässt. Ich muss die Kunst lebensnotwendigen Verdrängens umbauen. Ich vermute, dass sich manches nicht immer und nicht ganz verdrängen lässt. Flucht ist keine Lösung. Der Krebs war wieder zurück. Sarah erholt sich nur langsam von der zweiten Operation. In der Weihnachtswoche beginnt die Antihormontherapie. Sie hat gute Chancen, sagte die Oberärztin. Im Internet las ich das Gegenteil. Bei rezidivem Verlauf maximal fünf Jahre Überlebenszeit. Ich habe viel geweint, weil Sarah so sehr leiden muss. Sie ist schwer angeschlagen und wird nicht wieder gesund. Die erste Operation hatte sie noch weggesteckt. Meine Angst, sie zu verlieren, wächst gegen meine Hoffnung wie ein Tumor in mir selbst. Im Moment habe ich das Gefühl, als reiße der Tod auch mir das Leben aus dem Körper. Sarah ist meine Heimat. Wesentliches definiere ich über sie. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Verliere ich mich? Wenn ich Sarah verliere, muss ich mich wieder suchen. Ich habe Angst vor dieser Angst. Ich frage mich auch: Wie nah, wie gut sind mir meine Freunde, und wie stehe ich zu ihnen. Bin ich allein, wenn ich Sarah verliere? Was bin ich dann noch? Ich weiß das alles nicht. Ich fürchte mich auch vor dem Ende meines Berufs. Ich bin gern Lehrer. Ich verliere so viel, dass mir schwindlig wird. Ich habe nur das Schreiben, vielleicht noch das Lesen, und ab und zu Theaterbesuche mit lieben, alten Freunden… Ich werde bittrer. Aber ich weiß, ich werde alles durchstehen. Ich bin ganz sicher.

ein letztes reh | schmerzverschmiert ein reh die augen verschlossen | mit trocknendem blut | ein rennendes reh | fluchtsam | fort fort nicht zurück | in seiner flanke

abgeknickt | steckt | einem mahnmal gleich dein speer | ein wundes reh | nur fort weit fort | nach angst | die raue zunge schmeckt | geschlitzt | aufgerissen | und müde auge um auge und müde rennt ein reh weit weit davon | hungrig eines fahnenweiß das andre glaubt nicht mehr | freiwild | wildfrei nach innen | wenden will seinen kopf das reh und birgt ihn leise | im dickicht | zerwühlt | nieder lässt ein reh sich | an wunden aufgebrochen | sein mundvoll see | schmeckt bitter noch und pelzig | überwuchert von eisblumen ein schutz und | wall | wunden im knirschenden eis | das verflochten zu festem kranz wunden von menschenhand immer und immer | nieder legt ein reh | sein fell | am ufer wie mit zucker | übergossen | lockt der see | beträufelt bestreut | zu dickem sud gepresst wundränder die wachsen zusammen | zweier bäume ähnlich | die sich eine krone teilen | überzogen von milchigem laub | mit bitterer schale bedeckt | durchsichtig fast so zart | fallen lässt ein reh | sein fell am horizont | zieht fort | fort die flaumigen augen gehisst | wie rufe aus der einsamkeit ||

es rennt ein reh | unter meiner haut

24.6.2004

Liebe Katrin,

ich kann im Moment gar nicht anders als dein Gedicht „ein letztes reh“ auf meine sterbende Geliebte zu beziehen. Sie liegt neben mir, ich schaue links auf das südlich auslaufende Siebengebirge, sie schläft jetzt leicht. Der Speer steckt tief in ihr, die bewusstlose Waffe des Krebses. Dein Gedicht ist so reich an Wunden, so schön lesen sich die, und so schmerzschlagend sind sie. Ihre Wunden rennen unter meiner Haut, das ist das Schlimmste. So schwach ist sie, so leise, so anders, da bin ich jetzt schon einsam, und sie muss sich genauso fühlen im Prozess der Entfernung, den der Tumor antreibt. Paradox ist diese Entfernung bei gleichzeitig zunehmender Nähe. So absurd ist unser Leben.

Ich weiß, dein Gedicht ist nicht so gemeint, wie ich es jetzt lese. In dem wesentlichen Punkt aber, dass wir in unserem Leben verwunden und verwundet werden, dass wir sprechende Wunden sind, dass vielleicht die Kunst nichts anderes ist als die in Schönheit umgewandelte Wunde, und das alles sind Motive, die dein lyrisches Werk durchziehen, in diesem Punkt also berühren sich meine augenblickliche Lesart und dein bewusster und unbewusster Ausdruck.

Ich wünschte, ich könnte dir unter besseren Umständen schreiben. Aber ich lebe und werde sicherlich auch wieder froher, und wenn wir uns wiedersehen, lächeln wir, ja?

Dir alles Liebe und Gute für die kleinen oder großen Schritte ins Leben hinein (oder hinaus? oder hinauf?)! Ich wünsche dir alle drei Varianten!

Dein C.G.

3.7.

Nun ist es so gekommen, wie ich es lange immer nur fürchtete, aber selber wider besseres Wissen nicht wahrhaben wollte: Sarah liegt im Sterben, und ich bin bald allein. Sie brach am 11. Juni zusammen, sie war völlig erschöpft, der Krebs frisst sie langsam auf. Helene, ihre beste Freundin, übernachtete bei Sarah. Sie rief mich an. Ich war gerade mit meiner Klasse in Dresden, am Handy entschied ich Sarahs Einweisung auf die Palliativstation im Krankenhaus Maria Stern, das hatte ich zwei Tage vor der Klassenfahrt noch vorbereiten können. Schon als ich Ende Mai mit den Schülern auf Studienfahrt in Italien war, während Sarah mit Freundinnen vier Tage in Zandvoort verbrachte, war sie sehr matt und oft erschöpft. Aber wir hatten noch keinen endgültigen medizinischen Beweis. Dr. B. hatte uns immer noch nicht die Analyse des CT vom 14.5. mitgeteilt – wir erfuhren alles erst am 14. Juni vom Stationsarzt der Palliativstation. Vielleicht war es gut. So konnte Sarah länger hoffen. Der Tumor beherrscht das Becken, schnürte den Darm ein, wegen Darmverschluss musste in Maria Stern wieder operiert werden, wie im letzten Dezember. Der untere Teil eines Lungenflügels ist befallen, auch die Leber. Sarah befindet sich im Endstadium der nie ganz geklärten Krebserkrankung. Die Nachricht, dass sie bald sterben muss, begriff Sarah nicht sofort. Am nächsten Tag wiederholte ich, was der Arzt sagte. Sie weint kurz, ganz leise, wie vor vier Jahren, als festgestellt wurde, dass der Tumor bösartig war. Dann brauchst du das Souterrain nicht zu mieten, sagt sie. Ich will eine einfache Beerdigung. Bezahl die Rechnung schnell, ich will nicht ins Gerede kommen.

Seit dem 29.6. ist Sarah wieder zu Hause. Ich führte lange Gespräche mit Dr. L., der diese Station leitet. Sarah soll in Würde sterben, in ihrer gewohnten Umgebung. Gute Tage kann sie vielleicht noch erleben, trotz aller Einschränkungen. Nun pflege ich Sarah, gebe ihr alle Medikamente, vor allem die Morphinspritzen. Ich helfe ihr aus dem Bett zur Toilette oder auf den Stuhl im Wintergarten. Sie kann noch, mühsam, gehen. Morgens kommt der Caritas-Pflegedienst, nachmittags und abends habe ich ein paar Stunden frei, da hilft mir der regelmäßig eingerichtete Dienst der Freunde und Verwandten, besonders mein Sohn. Er kommt immer am späten Nachmittag und ist ganz zart zu Sarah, da wird es heller in ihr. Felix kocht ihr etwas und dann isst er mit ihr zusammen. Später kommt Julia dazu. Dann komme ich aus der Stadt zurück. Zum Glück fanden wir eine Ärztin, die regelmäßig Hausbesuche macht, und eine Physiotherapeutin für die Lymphdrainagen, damit das rechte Bein nicht zu sehr schmerzt.

Ich bin krankgeschrieben bis zu den Sommerferien. Mein Direktor ist sehr verständnisvoll. Ich habe in Abwesenheit noch zwei Klausuren schreiben lassen und werde sie bis zur Versetzungskonferenz korrigieren und alle Noten für die Schüler an die Schule schicken.

Die ersten Tage zu Hause waren schwer. Alles war zu organisieren – Pflegedienst, Stomabetreuung, Krankenbett, Toilettenerhöhung Toilettenrollstuhl… Manches lief nicht, ich bekam nicht gleich alle Medikamente, ich bewältigte kaum das Übermaß an Besorgungen. Ganz schwierig ist die Versorgung des anus praeter. Zum Glück beherrscht Herr S., der Pflegedienstleiter, das Problem. Einmal kam er mitten in der Nacht, als ich in Not war und die Platte nicht wechseln konnte.

Ich erfahre viel Hilfe und Zuspruch. Ich komme nun, wo alles ruhiger läuft, wieder zum Schreiben und zur Erledigung liegengebliebener Dinge. Sarah kennt ihre Lage, sie weiß, dass sie sehr bald sterben wird. Sie weint. Dann gibt es wieder bessere Momente. Meist schweigt sie und starrt richtungslos aus ihren Augen. Es wächst eine entsetzliche Leere in ihr, sie fühlt immer weniger Verlangen, ihr Dasein wird zur notwendigen Last. – So lebt sie hin…

6.7.

Sarah stirbt langsam. Draußen ein schöner, milder Sommer. In uns der härteste Winter. Sie ist kaum noch wach. Sie hat schon lange nicht mehr gelächelt. Sie spricht nur wenig. Das Sprechen fällt ihr schwer, der Mund ist so trocken von den Medikamenten. Sie spürt, dass sie immer weniger Kraft hat. Sie staunt. Das geht so schnell, Chris, das ist doch nicht normal! Sarah kann sich nicht mehr wehren gegen die Müdigkeit, sie kann nicht richtig trauern und Abschied nehmen. Vor drei Wochen sagte sie: Ich kann nicht mehr. Vor sieben Tagen: Ich will so nicht mehr leben. Gestern: Ich will nicht mehr leben, du hast doch auch nichts davon!

Sie isst kaum noch etwas. Heute ein halbes Honigbrötchen. Sie trinkt immer weniger – vielleicht noch eine Flasche Mineralwasser. Sie liegt fast den ganzen Tag im Bett. Sie hört im Halbschlaf manchmal zu. Aber sie kann sich nur einige Minuten lang konzentrieren. Jeder Besuch strengt sie an, auch der liebste.

Das rechte Bein ist stark geschwollen, spannt und tut weh. Die Lymphdrainagen helfen kaum. Ich massiere das Bein jetzt auch, um die Spannung zu mindern. Der anus praeter entlastet. Aber die Inkontinenz nimmt stark zu. Die Einlagen sind immer voll. Der Gang zur Toilette wird täglich schwerer, langsamer und gefährlicher. Ich muss sie stützen. Heute passte ich nicht auf, ich ließ sie los, griff schnell noch ein Handtuch aus dem Schrank, da kippte sie um und fiel auf den harten Boden. Zum Glück verletzte sie sich nicht. Sie kommt allein nicht mehr aus dem Bett. Sie beobachtet ihren Verfall. Ich sah einmal, wie sie das T-shirt am Hals anhob und an ihrem abgemagerten Körper herunterblickte. Ein anderes Mal zupfte sie mit den Fingern an der schlaffen Haut des Oberarms herum und starrte in die Luft. Sie registriert den langsamen Verlust des Körpers.

*

In Sarahs Terminkalender sind alle Krankheiten der letzten zehn Jahre vermerkt, alle Daten und Ärzte. Seit dem 23.4.04 schreibt sie auf, was sie isst. Die Notizen enden am 4.6.04:

 

8.00h 1 Scheibe Roggenbrot, 1 Messerspitze Butter, etwas Marmelade / 10.00h 1 Tasse Nudelsuppe / 19.00 h 2 Scheiben Roggenbrot mit Schmelzkäse.

Es folgt eine kleine Tabelle ihrer Körpergewichte:

 

25.4.03 86.0 / Chemotherapie / 1.8.03 80.0 / 1.9.03 78.0 / 1.10.03 77.0 / 1.12.03 zweite Operation / 1.1.04 66.0 / 2.2.04 65.0 / 1.3.04 63.0 / 1.4.04 57.0 / 1.5. 56.0

Zuletzt notierte sie:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Ludwig Wittgenstein

*

Sarah nimmt immer weniger Anteil am Leben. Schon seit Wochen liest sie nicht mehr die Zeitung. Sie liest gar nichts mehr. Sie hört. Die Augen fallen zu beim Fernsehen. Ich soll das Radio nicht mehr anmachen. Sie leidet still in ihrer so langsam gewordenen Seele.

Sie verlangt Arznei, die von Schmerzen befreit. Die Schmerzen der Seele bleiben, sie werden eingeschläfert durch andere Medikamente, die Angst und Unruhe auflösen. Morphin, Haldol, Dormicum, Tavor – das sind die Namen des langsamen Sterbens. Ihr Leben reduziert sich von Tag zu Tag. Aber ich weiß keinen besseren Weg. Vielleicht gibt es wenige stille schöne Momente. Ich weiß es nicht.

Gestern nachmittag fuhr ich mit dem Rad in die Stadt. Vor dem Trödelladen neben der Post standen alte Schallplatten, His Masters Voice: Cavalleria Rusticana, von Pietro Mascagni selber dirigiert. Ich frage den Händler: Wie teuer? Er sagt: Hörst du die Platten mit deiner Frau? Ja, sage ich, sie liebt die Oper. Er sagt: Die schenk ich dir. Zu Hause lege ich die Platten auf und Sarah hört die ganze Oper. Heute ist Helene da. Während Frau C. Sarahs Bein massiert, hören wir die Oper noch einmal und fragen uns, wielange wir Helene und Marius schon kennen. Ich hole den Ordner RES PRIVATAE, darin habe ich eine Liste mit unseren Treffen in den ersten zwölf Jahren. Ich lese vor und wir kommentieren unsere Erinnerungen. Sarah lächelt. Bis zuletzt liebt sie uns. Sie ist mild und ganz ruhig. Aber sie ist geschlagen. Ich hoffe, sie stirbt nicht zu spät. Im Sommer ist die Erde leicht.

8.7.

Heute weinten wir immer wieder. Sarah sagt, sie will ein Gespräch über das Sterben. Nicht mit mir? Nein, du bist zu subjektiv, sagt sie. Meinst du, der Tod ist dir schon so nah? Ja, sagt sie. Sie weint: Ich kann nichts mehr machen. Ich kann kaum sprechen. Es passiert nichts mehr. Du hast vielleicht noch schöne Stunden, sage ich, morgen oder übermorgen. Morgen kommt Felix! Darauf freut sie sich, sie sprach vorhin mit ihm. Sie hat gelächelt, als er sagte, ich freu mich auf dich. Ich freu mich auch, sagte sie. Ich muss noch einiges regeln, sagt sie später. Du musst die Ohrringe, die auf meinem Schreibtisch liegen, wegtun. Ich passe auf, sage ich. Nur Julia bekommt immer mal etwas von meinem Schmuck. …Dein Leben war doch schön, oder? Ja, sagt sie. Du fehlst mir sehr, sage ich, meinst du, ich komm ohne dich klar? Ja, sagt sie, du hast doch so viele Aktivitäten. Aber wenn ich nach Hause komme, sage ich, fragt mich keiner: Wie war’s? Oder: Du kommst aber spät. Keiner sagt, im Topf ist noch Gulasch, du kannst alles haben. Sie weint. Das Leben ist nicht mehr schön für dich, sage ich. Ja, sagt sie. Kannst du denn dein Leben loslassen, frage ich. Das weiß ich noch nicht so genau, sagt sie, aber ich sehe keine Perspektive mehr. Sie weint. Soll ich dir Dormicum spritzen? Ja, sagt sie, die volle Ladung. So nenne ich die vier Spritzen: Eine Ampulle Morphin, eine Viertel-Ampulle Haldol, eine halbe Ampulle Dormicum und zum Nachspritzen in den Butterfly einen halben Milliliter Kochsalzlösung. Ich helfe ihr aus dem Bett im Wohnzimmer, ich halte sie fest bei ihren Tippelschritten zum Bad. Ich weine. Mir tut weh, wie du leidest, sage ich. Sie weint. Ich stütze sie auf dem Weg durch den Flur zum Schlafzimmer, in dem sie nachts am liebsten liegt. Ich schaue ihr auf den Nacken. Als ich sie kennenlernte, war ein Moment, wo ich sie beobachtete, vor über 30 Jahren, wir waren gerade in unsere erste kleine Wohnung gezogen. Sie bückte sich weit über den Rand der Badewanne, um sich unter dem Wasserhahn die Haare zu waschen. Ich sah ihr lange auf den Nacken und liebte sie in dieser kleinen Zeit so sehr. Aber sie weiß das gar nicht. Jetzt gehe ich langsam mit ihr durch den Flur zum Schlafzimmer. Ich halte sie von hinten fest. Ich verstehe jetzt alles besser, sage ich, du hast schon vor deiner Hollandreise sehr gelitten. Ja, sagt sie. Du hast manchmal schon so schwer geatmet, sage ich, du hast vielleicht schon seit der letzten Operation sehr gelitten. Ja, sagt sie.

Ich will wissen, wie das mit dem Sterben ist, sagt sie. Ich sage, wir fragen gleich die Ärztin. Ich lege sie ins Bett, sie bekommt die volle Ladung. Gleich wird sie wieder schlafen. Zur Ärztin, die gerade kommt, sage ich: Sie hat gestern viel geweint und heute immer wieder. … Ich weiß nicht, sagt Sarah, ob ich lieber im Hospiz sterbe. Nein, sage ich, hier sind wir alle bei dir. Sie entscheiden, sagt die Ärztin, wo Sie sich sicher und wohl fühlen. …Haben Sie denn etwas auf dem Herzen, das Sie loswerden wollen? Nein, sagt Sarah. Sie haben einen so prachtvollen Sohn, sagt die Ärztin, den haben Sie wunderbar erzogen! Sie nimmt ihre Hand. Und Ihr Mann ist doch gut zu Ihnen. Ja, sagt Sarah, auf den kann ich mich verlassen. Sie schaut mich an. Die Ärztin sagt: Es ist alles gut. Ihr Sohn hat einen sicheren Beruf, eine liebe Frau, und der Enkel kommt bald zur Welt. Ja, sagt Sarah. …Sie hätten gern das Alter mit Ihrem Mann erlebt, sagt die Ärztin. Ja, sagt Sarah, das ist doch normal. Sie weint leise. Die Augen fallen zu. Dann sagt sie: Wenn ich nicht mehr lebe, wird dann alles dunkel und ich sehe nichts mehr? Sie werden ganz leicht sterben, sagt die Ärztin, Sie sind so schwach, Sie werden einfach aufhören zu atmen, Sie werden nicht kämpfen. Sie wachen nicht mehr auf. Es ist ganz leicht. Sarah sagt nichts, sie schaut die Ärztin ruhig an.

11.7.

Vorgestern erzähle ich Sarah in der Nacht, wie sehr ich sie liebte, als wir in unserer ersten kleinen Wohnung in der Kennedyallee lebten – die Geschichte mit dem Nacken. Ich gehe hinter ihr, wie immer jetzt, um sie zu stützen, sehe wieder auf ihren Nacken, ich weine lautlos, als ich ihr das sage.

Gestern nachmittag verabschiedet sie sich von unserem Freund Constantin: Wir unterhalten uns noch mal länger, wenn ich etwas fitter bin – ich danke dir, dass du mich immer so brav besucht hast.

Katharina: Ich erzähle vom Sterben meiner Schwiegermutter vor einem Jahr. Wie werde ich sterben? fragt Sarah. Ich sage, Krebspatienten sterben oft an den Folgen der sehr hohen Morphingaben. Meine Schwiegermutter hörte im Schlaf auf  zu atmen. Ist das bei mir auch so? fragt Sarah. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, sage ich. Kann ich selbst bestimmen, wann ich gehe, kann mir jemand dabei helfen? Nein, sage ich, das ist in Deutschland verboten – willst du denn so schnell wie möglich sterben? Ja, sagt Sarah, es ist nichts mehr schön, alles schlimm. Sie weint. Hast du gar keine schöne Stunde mehr? Nein. Aber auf Felix und Chris kann ich mich verlassen. Sie ist stolz auf Felix, sie musste sich nie Sorgen um ihn machen. Nach einer Schlafpause fragt sie: Warum war deine Schwiegermutter im Hospiz? Wir schafften es nicht allein. Willst du lieber ins Hospiz? Nein, nur wenn Chris und Felix nicht mehr können. Du hast es so schön hier, sage ich, und Chris und Felix haben so viel Unterstützung, dass sie es nicht zulassen, dass du ins Hospiz gehst. Sarah ist erschöpft. Soll ich in ein paar Tagen noch mal wieder kommen? Auf alle Fälle, sagt sie.

Ich fahre am Nachmittag mit dem Rad in die Stadt. Im Schaufenster des Trödelladens sehe ich eine große Tiffany-Lampe. Ich rufe Julia an, schau dir die Lampe an, wenn sie dir auch gefällt, kaufe ich sie. Felix erzählt Sarah von dem Kauf, bevor ich mit Julia die Lampe bringe. Sarah macht eine Handbewegung vor der Stirn – ich sei total bescheuert, typisch Chris.

Felix setzt sich zu ihr ans Bett und blättert in dem Fotoalbum, das ich im letzten Oktober für ihn zusammenstellte, als er 31 wurde. Er spricht über die Bilder. Dann gibt er ihr zu essen. Ich esse mit Julia im Wintergarten. Du hast den Fisch gut gekocht, sagt Sarah später zu mir. Letzte Momente ihrer Nähe zu uns.

Am Ende der Nacht sagt sie, ich will aufstehen. Warum? Musst du zur Toilette, frage ich. Ich weiß nicht, sagt sie. Komm, wir stehen erst mal auf, sage ich. Ich setze sie in den Toilettenstuhl und fahre sie zum Bad. Das Stehen vor der Toilette, wo sie die Unterhose nach unten zieht, damit ich die Einlage herausnehmen kann, strengt sie sehr an. Nach dem langen Sitzen auf dem WC, wenn sie die neue Einlage einpasst und die Unterhose wieder hochzieht, steht sie sehr unsicher. Ich setze sie wieder auf den Toilettenrollstuhl und schiebe sie aus dem Bad. Sie zeigt nach rechts. Sie will nicht gleich zurück ins Bett, sondern durch die Wohnung fahren: Durch die Küche, den Wintergarten, das Wohnzimmer. Dort schaut sie zur Decke. Sie prüft, ob die neue Lampe passt. Sie sagt nichts. Ich fahre sie durchs Arbeitszimmer zurück in ihr Zimmer, in dem sie am liebsten schläft. Vor drei Tagen machten wir schon einmal so eine Tour durch die Wohnung. Das Krankenbett im Wohnzimmer nutzt sie immer weniger, obwohl sie dort vor allem abends mit uns zusammen war, wenn wir am Esstisch im Wintergarten saßen.

Sie entfernt sich langsam von uns, sie geht ihren Weg. Sie redet immer weniger. Heute hat sie zum ersten Mal nichts gegessen, kaum getrunken. In der Mittagszeit kam Helene. Es entstand kein Dialog. Sie ist nicht immer ganz da, wenn sie wach ist. Sie kann die Uhrzeit nicht fassen. Sie denkt, es ist schon viel später. Sie fragt, wer da sei außer mir. Sie schaut ohne Interesse auf den Tagesplan. Sie fällt aus der Zeit.

12.7.

Dekubitus. Der Steiß ist wund vom langen Liegen, schwarzrot das abgestorbene Gewebe der Haut, so groß wie eine Münze. Diese Wunde wird aufgehen, sagt Schwester Susanne am Morgen, Sie müssen Ihre Frau alle zwei Stunden bewegen, seitlich lagern. In der Mittagszeit kommt Helene. Wir legen Sarah zum Schlafen auf die Seite. Ich sage, das muss sein, du bekommst üble Schmerzen am Rücken. Sie winkt mit der Hand ab. Sie weint. Ich rufe die Palliativstation Maria Stern an. Pfleger Heuberg sagt, kommen Sie her, ich gebe Ihnen Pflaster. Ich fahre hin. Heuberg meint, es ist besser, Sarah fühlt sich wohl, sie soll liegen, wie sie will, die Wundschmerzen sind jetzt sekundär.

Sarahs Blick wirkt immer müder, distanzierter. Aus den Augen weicht die Trauer. Leid ist ins Gesicht gezeichnet. Im Bad spürt sie die Gebrechlichkeit ihres Körpers besonders hart. Ihre Bewegungen werden langsamer und ungenauer. Abends liegt sie im Bett und döst. Da sieht das Gesicht für eine kleine Weile entspannt aus, wirkt weich und zart.

Sie sprach im Traum, sagt Julia, als ich um halbzehn von der Oper zurückkomme. „Satyagraha“ von Philip Glass. Ich dachte an Sarah, wie sie aus unserer Welt hinausgeht. Im letzten Akt wird die Auferstehung der Seele ins Bild gesetzt, der Sieg der Ideen Mahatma Gandhis. Empor ragt der, dessen Seele ansieht auf selbige Weise Freunde, Gefährten, Feinde, Gleichgültige … Dies ist der feste, stille Zustand, der, sogar zur Zeit des Todes, die Seele erhält… In unserer Wohnung entsteht Zeitlosigkeit. Sie geht von Sarah aus.

Sarah ruft mich zwei Mal in der Nacht. Sie weint. Ich kann nicht mehr, sagt sie. Ich gebe ihr die Spritzen. Die Nächte strengen mich an, weil ich nur leicht schlafe und morgens zerschlagen bin. Wenn Schwester Susanne die Morgenpflege beendet hat, schläft Sarah weiter. Ich korrigiere Klausuren, schreibe Briefe, lese, telefoniere und ordne die Dinge. Ich werde unterstützt von den Freunden und Verwandten. Sie kommen pünktlich um vier, waschen Wäsche, bügeln und putzen die Wohnung. Dann fahre ich mit dem Rad in die Stadt. Um halb sechs kommt Felix. Er bleibt oft bis neun. Mit Sarah ist er so zärtlich und freundlich wie kein anderer, er macht alles für sie, ich kann mich vollkommen auf ihn verlassen. Später kommt Julia mit Max im Bauch. Ich kehre zwischen sieben und acht aus der Stadt zurück. Dann unterhalten wir uns noch eine Weile.

Das ist so traurig, sagt Felix, jetzt sind wir zu zweit. Ich sage, zu viert, Julia gehört zu uns, und bald kommt Max noch dazu.

16.7.

Am frühen Morgen ruft Sarah ganz schwach „Chris!“ Sie weint leise. Das Bein tut ihr weh. Sie braucht wieder Morphin. Ich gebe ihr noch Tavor. Die Tablette habe ich in Wasser aufgelöst und spritze sie in den Mund. Sarah kann kaum noch schlucken. Dann schläft sie wieder ein. Um elf kommt Schwester Susanne, Sarah wird nicht richtig wach. Die Schwester wechselt die Einlage. Sie legt Sarah auf die Seite und hält sie fest. Sarah weint. Ihr Gesicht verzerrt sich. Die Schwester wäscht sie, putzt ihr mit Wasser die Zähne und bettet sie wieder. Ich gebe Sarah Morphin, Haldol und Dormicum. Danach schläft sie sieben Stunden lang.

Um sieben komme ich aus der Stadt zurück. Sarah wacht auf. Ich setze mich mit Julia, die Wache gehalten hat, zu ihr ans Bett, an die Herzseite. Sie will etwas seitlich liegen. Keine Schmerzmittel. Ich nehme Sarahs linke Hand. Sie liegt fest und warm in meiner linken Hand. Ich erzähle Julia, wie ich Sarah kennengelernt habe. Ich habe sie sofort zur Frau haben wollen. Ich erzähle, wie sie immer zu mir gehalten hat, wie wir zusammenlebten, ohne uns immer wieder unsere Liebe zu erklären. Ich weine. Ich sage, die Güte war ihre wesentliche Stärke. Und die Großzügigkeit, sagt Julia. Ja, sage ich. Und als wir heirateten, war ich auf einmal erwachsen – das wird bei euch bald auch so sein, wenn Max zur Welt kommt. Ja, sagt Julia, dann wird Felix erwachsen. Ich werde jetzt ganz erwachsen, sage ich. Ich erzähle von unserer Hochzeitsreise, von der Reise in die DDR zu meiner Mutter. Mir fällt Brit ein, meine Schwester, die mir in den letzten Wochen sehr viel näher kam. Ich erzähle von meiner Großmutter, die ich mehr liebte als meine Mutter, fast so sehr wie Sarah. Ich rede und rede … von unserer Amerika-Reise, von der Entdeckung der Verdon-Schlucht … Sarah zieht langsam ihre Hand aus meiner Hand heraus…

Wenige Minuten später kommt Felix, zum ersten Mal sehen wir ihn in seiner Uniform. Er beugt sich über Sarah und streichelt sie, dann zeigt er ihr seine BGS-Uniform. Schön, sagt Sarah leise. Dann streckt sie beide Arme nach ihm aus und zieht ihn nah zu sich heran. Sie lächelt. Sie lässt ihn los und schließt die Augen.

17.7.

In der Nacht braucht sie Morphin. Gegen Morgen wechsle ich die Einlage. Um zehn setze ich mich ans Bett, Sarah weint etwas, weniger als gestern. Ich kann nicht mehr, sagt sie. Ich weiß, sage ich, … du musst nicht mehr, Sarah. Lass los, dann schläfst du ein, du hast keine Schmerzen mehr, du musst nicht mehr leiden. Ich gebe ihr Morphin und Dormicum. Dann kommt Schwester Sabine, wechselt die Einlage, cremt die Beine ein und putzt die Zähne. Sarah schläft eine Weile, dann ruft sie mich. Ich muss mal, sagt sie. Schwester Sabine hat eben die Einlage gewechselt, sage ich. Ich will trinken, sagt sie, Cola. Sie kann doch noch etwas schlucken. Drei Mal trinkt sie ein paar Tropfen. Heute ist Samstag, draußen scheint die Sonne und es ist warm, sage ich, in der Rheinaue ist Flohmarkt. Sie schaut mich kurz an. Etwas später sehe ich eine kleine Träne am Auge. Um drei gebe ich ihr wieder die Spritzen, dann schläft sie ziemlich fest bis neun.

20.7.

Jetzt schläfst du in den Tod hinein. Deine Hände sind viel schlanker als früher. Sie sprechen die Sprache, die ich kenne. Ich sage dir, ich liebe dich immer, damals, heute, morgen. Du hast mir vor ein paar Jahren mal gesagt, es ist schön, dass ich älter bin als du. Da kann ich hinter dir her gehen. Jetzt läufst du mir davon. Ich stehe hinter dir und kann dir jetzt nicht folgen. Ich weiß, du wolltest das nicht. Ich kann nicht mehr, sagtest du zuletzt immer wieder. Ich sehe dir zu, wie du gehst. Es ist der schlimmste Abschied, den ich denken kann. Ich habe ihn oft befürchtet, so als Gedankenspiel. Schnell weg mit diesen Gedanken, dachte ich. Da ging die Tür auf, du kamst herein, oder du riefst mich – Glück gehabt! Mit dir zusammen war ich gern allein. Ohne dich bin ich einsam. Wer geht jetzt hinter mir und hinter wem gehe ich nun weiter?

*

„Kann der Sterbende keine Flüssigkeit mehr schlucken, ist es für ihn hilfreich und angenehm, wenn wir ihm den Mund immer wieder befeuchten … durch einen nassen Waschlappen, an dem er saugen kann.“ Der Satz steht in der Broschüre Die letzten Wochen und Tage. Ich denke an den Hinrichtungsapparat in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie: „.. am Kopfende des Bettes … ist dieser kleine Filzstumpf, der … in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern.“ Der Sterbende erfährt Linderung an seinem Körper. Tavor und Dormicum lindern nur den Körper der Seele, dringen nicht in die Tiefe, nicht dorthin, wo der Sterbende träumt und sein bitteres Schicksal abarbeitet. Sarah weint, wenn sie aufwacht. Sie wird ihr Todesurteil nie entziffern, nie verstehen, aber sie kann mit ihrem Leben abschließen, mit sich selbst zur Ruhe kommen und sich die Freiheit ins Gesicht schreiben.

 

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.