Wir sind die anderen

Künstlerische Strategien reflektieren oft die vorherrschenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten, Werte und Debatten ihrer Zeit. Sie visualisieren historische Ereignisse, verkörpern gesellschaftliche Werte oder kommentieren politische und soziale Missstände.

Ausgehend von Fernando Pessoa. Er verfasste seine Werke hauptsächlich unter den drei Heteronymen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos und dem Halb-Heteronym Bernardo Soares. Weitere Heteronyme Pessoas waren die Brüder Charles James und Alexander Search. Er nutze diese Avatare um die Poesie zu erforschen und die Grenzen der Literatur zu erweitern. Pessoa litt unter einem starken Gefühl der Entfremdung von sich selbst und einer multiplen Persönlichkeit („Ich bin, wer alle sind“). Die Heteronyme ermöglichten es ihm, verschiedene Seelenzustände parallel zu fühlen und zu analysieren und so die Zersplitterung der modernen Existenz abzubilden.

Jedes Heteronym von Pessoa hatte eine eigene, detaillierte Biografie, einen einzigartigen Schreibstil, eine spezifische Philosophie und unterschiedliche literarische Einflüsse.

Dieser Ansatz erlaubte es dem Poeten, eine breite Palette an poetischen Stilen und Weltanschauungen auszudrücken, die er nicht unter seinem eigenen Namen hätte vereinen können. Pessoa bezeichnete sein heteronymes Werk als ein Drama in Menschen. Die verschiedenen Charaktere interagierten literarisch miteinander, indem sie sich gegenseitig beeinflussten, verehrten (z.B. sahen Reis und Campos Caeiro als ihren Meister an) oder sich voneinander abgrenzten. Das portugiesische Wort „pessoa“ bedeutet „Person“ oder „Maske“ (vom lateinischen persona). Durch die Maske der Heteronyme konnte Pessoa sich verhüllen und gleichzeitig auf tiefere, persönlichere Weise ausdrücken, was paradoxerweise zu einer Form der Selbstsuche führte.

Von allen Werkzeugen, die der Mensch besitzt, ist das erstaunlichste zweifellos das Buch. Die anderen sind nur verlängerte Werkzeuge seines Körpers: Mikroskope, Teleskope sind eine Verlängerung seiner Sicht; das Telefon ist die Verlängerung seiner Stimme; dann gibt es da noch den Pflug und die Waffen, die nur Verlängerungen seines Armes sind. Aber das Buch ist etwas anderes: Das Buch ist eine Verlängerung des Gedächtnisses und der Vorstellung.

Jorge Luis Borges

Die Verbindung zwischen Fernando Pessoa und Jorge Luis Borges besteht in einer gegenseitigen Bewunderung vonseiten Borges‘ und in bedeutenden literarischen Parallelen und Einflüssen. Borges bewunderte insbesondere das Konzept der Heteronyme, also die Schöpfung eigenständiger literarischer Persönlichkeiten mit eigenen Stilen und Philosophien. Er schätzte die Art und Weise, wie Pessoa mit diesen verschiedenen Stimmen philosophische Themen erforschte. Sowohl Pessoa (durch seine Heteronyme) als auch Borges (durch sein „fiktives“ oder „narratives“ Ich in seinen Texten) stellten das traditionelle, einheitliche Autoren-Ich in Frage. Bei Pessoa tritt das Subjekt zugunsten der Heteronyme zurück, während Borges das narrative Selbst kontinuierlich neu formt. Man kann Pessoas innovativen Umgang mit der Autorschaft als Bindeglied zu den offenen Poetiken und den fingierten Sachtexten von Borges lesen. Das Reale und Wirkliche unterliegt der Zeit und wiederholt sich in diesem gedanklichen Ausflug, weshalb es altern oder veralten kann. Was sich die Fantasie ausdenkt und was nie wirklich geschehen ist, veraltet nicht, weil es nicht an Zeit und Realität gebunden ist. Im Gegensatz dazu wiederholt sich das wirkliche Leben ständig, aber die Vorstellungskraft bleibt auf ewig jung.

Die Aussage „Ich ist ein anderer“ (mit grammatikalisch inkorrektem „ist“ statt „bin“, um die Entfremdung zu betonen) drückt die Idee aus, dass das Subjekt, das „Ich“, keine feste, unveränderliche Einheit ist, sondern ständig im Wandel begriffen und von äußeren Einflüssen und Erfahrungen geformt wird.

Kunst kann gesellschaftliche Herausforderungen auf den Punkt bringen, ohne sie dabei zu vereinfachen. Dies bietet Reibungsflächen für die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Künstlerische Strategien dienen als Impulsgeber für neue Denkweisen, brechen verkrustete Strukturen auf und schaffen Reflexionsorte für gesellschaftliche Entwicklungen. Es ist durchaus denkbar, dass die Künstlergruppe Wu Ming in ihren Aktionen und Schriften auf Arthur Rimbaud als eine Ikone der literarischen Avantgarde oder des radikalen Künstlertums Bezug genommen hat. Formell bestehen jedoch keine direkten Verbindungen, außer vielleicht im Kontext von kunsttheoretischen Diskussionen über Avantgarde und die Integration von Kunst ins ´Spektakel`. Viele künstlerische Strategien sind explizit darauf ausgelegt, im sozialen Feld zu intervenieren, sei es durch partizipatorische Kunstformen, Aktionen im öffentlichen Raum oder sozial engagierte Projekte. Diese Praktiken zielen darauf ab, direkte konstruktive Eingriffe zu bewirken und soziale Handlungsräume zu schaffen.

Kollektive rücken gesellschaftliche Debatten, Identitätspolitik und das Gemeinwohl in den Fokus, was als Gegenentwurf zu den eingefahrenen Erzählungen des „Ich-Künstlers“ gesehen wird.

Die an einen Schlager erinnernde Aussage „Wir sind die anderen“* weist darauf hin, dass die „Anderen“, von denen sich das Individuum abgrenzt, letztlich auch nur unsere Mitmenschen sind, zu denen das Selbst aus der Perspektive anderer gehört. Die Zusammenarbeit ermöglicht interdisziplinäre Projekte und innovative Ausdrucksformen, die über die Möglichkeiten einer Einzelperson hinausgehen, wie etwa partizipative Kunst oder groß angelegte Installationen. Wu Ming thematisieren die Inklusion und die Auflösung von Vorurteilen, zumeist thematisieren im breiteren Kontext von sozialer Gerechtigkeit und historischen Machtverhältnissen, sie rücken oft Charaktere und Gemeinschaften in den Mittelpunkt, die in der dominanten Geschichtsschreibung übersehen oder marginalisiert wurden. Dies fördert ein Verständnis für Inklusion und die Anerkennung von Vielfalt vor dem gesellschaftlichen Hintergrund von: Klassizismus, Rassismus und Sexismus. Die Berührungspunkte der ´Ichlinge` mit dem ´Wir` reichen von höchst subtilen ästhetischen Reaktionen bis hin zu direktem politischen Aktivismus. Die Idee, dass das Ich nicht monolithisch oder vollständig zu fassen ist, sondern vielmehr aus verschiedenen, vielleicht sogar fremden Teilen besteht – oder sich ständig verändert, hat in verschiedenen künstlerischen Kontexten einen Widerhall gefunden. Kunst ermöglicht unterschiedliche Methoden zu wirken, darunter auch erzählerische und poetische Untersuchungen, die sich in Formen wie Performance, Fotografie und multimedialen Ansätzen ausdrücken.

 

 

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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, von Fernando Pessoa: Ammann, Zürich 2003

Ein 1994 veröffentlichtes Porträt von Luther Blissett

Weiterführend Der Bibliothekar von Babel. Lettrismus · Revisited. Vertiefend zum Thema Künstlerbücher lesen finden Sie hier einen Essay. Weiterführend das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Quellenangabe: „*Wir sind die anderen“ ist eine popkulturelle Referenz. Die Combo 2RAUMWOHNUNG bezieht sich jedoch ihrerseits auf die zentrale Zeile des Festgesangs „Einigkeit und Recht und Freiheit“, welches als dritte Strophe des Deutschlandlieds die aktuelle deutsche Nationalhymne darstellt. Die Aussage betont, dass die Werte der Hymne für alle gelten, auch für jene, die sich traditionell nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft gesehen haben oder von dieser ausgeschlossen wurden. Der eigentliche Text stammt von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der ihn 1841 auf der Insel Helgoland verfasste, während die Melodie von Joseph Haydn stammt, der sie ursprünglich für eine österreichische Kaiserhymne schrieb.