Die Eisenbahn

 

Oben auf dem Oller, wie die Wuppertaler die Bodenkammern zu nennen pflegen, befand sich das Laboratorium meines jüngsten Bruders, »das Giftzimmer«, darin Flaschen mit verschiedenartigen Salzen und Säuren und allerlei Chemikalien seltsamsten Farbeninhalts standen. Namentlich die grünspangelben Schwefelwürfel wirkten auf mich faszinierend. Mit Chemie und Naturwissenschaft beschäftigte sich mein Bruder mit Vorliebe, aber auch kleine Lokomotiven zu bauen, machte ihm große Freude. Man hörte sie schon im untersten Treppenhaus pfeifen. Manchmal rief er mich in sein Laboratorium, wenn die niedlichen Räder der Dampfmaschine, wie die einer D-Zuglokomotive im vollen Tempo über die Schienen rund um den breiten Tisch, durch den kleinen St. Gotthard, den mein Bruder ebenfalls gebaut und durchbrochen hatte, rasten. Meine zwei zierlichen Wachspuppenzwillinge: beide hießen sie Meta, durfte ich in den Wagen I. Klasse setzen, eigens für sie angehängt. Nur vor den Flaschen hatte ich eine unerklärliche Angst … in der blauen … saß ein Gespenst … Wenn mein Bruder die eine oder andere öffnete, roch es so giftig in der Luft, ich glaubte ersticken zu müssen. Aber er war ein Zauberer, denn er konnte aus grün und gelb blau zaubern und wieder zurück. Zwei Säuren, die er zusammengoß, wurden auf einmal lila und ein Tropfen vom Salpeter genügte, um aus Lila Rot zu verwandeln. Auf den Eckbrettern lagen übereinander griechische und lateinische Bücher und eine alte mächtige Bibel in weißen verwitterten Lederdeckeln. Mein Bruder war fromm. Doch mich interessierten seine Herbarien mit den zarten Zittergräsern und sorgsam getrockneten Blumen, Winden, Wicken und Weißdorn und eine große Königskerze. Im Glasschrank stand seine Münzensammlung, manche waren schon verrostet, und seine herrliche Steinsammlung. Der große Lapislazuli hatte es mir angetan und der Kristall – noch im Berg. Wenn es Abend wurde, machte mein Bruder seine Aufgaben. Er besuchte die Prima im Gymnasium und gab mir Nachhilfestunden, denn ich träumte zuviel in der Schule. Addieren und multiplizieren konnte ich halbwegs bis 100, in der Geographie wußte ich nur die Städte und Flüsse, wo ich schon gewesen war, oder das Meer, darin ich geplätschert hatte. Mein Bruder aber besaß eine Himmelsgeduld, und zum Schluß erzählte er mir immer wieder meine Lieblingsgeschichte von Joseph und seinen Brüdern und zeigte mir das Bild dazu, wie er verkauft wurde. Eines Tages im Winter am Sonntag starb mein Bruder. Genau wie er zu unserer teuren Mutter gesagt hatte – am Sonntag. Ein Heiligenschein lag um seine Sonnenhaare – er lächelte, er war reinen Herzens gewesen und schaute den lieben Gott. Ich trug einen Flor um den kleinen Arm und eine lange Kette mit schwarzen Glasperlen um den Hals. Die Kinder in der Schule beneideten mich heimlich darum, und ich kam mir so erwachsen vor. Aber einmal in der Frühe, ich schlief noch, stand mein toter Bruder vor meinem Bettchen und nahm mich bei der Hand. Wir stiegen bis auf den Oller in das Giftzimmer, dort goß er Spiritus in den Kessel der Lokomotive, genau wie ein Heizer; dann raste sie nur so über die Schienen – und er sagte zu mir: »Die großen Lokomotiven führen in alle Städte, ja, in alle Länder der Welt, aber diese kleine bis in den Himmel hinein.«

 

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Else Lasker-Schüler aka Prinz Yussuf (1912)

„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.
Else Lasker-Schüler wurde geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld. Sie starb am 22.1.1945 in Jerusalem.

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KUNO würdigte die Poetin mit einem Rezensionsessay. Poesie zählt für die Kulturnotizen weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.V