Manifest in „Transition“

Dichtung ist vertikal

Man ist zu horizontal gewesen,
ich habe Lust, vertikal zu sein.

Léon Paul Farque

In einer vom Positivismus hypnotisierten Welt proklamieren wir die Autonomie der poetischen Vision, die Hegemonie des inneren über das äußere Leben.

Wir verwerfen das Postulat, nach dem die kreative Persönlichkeit nichts weiter ist als ein Faktor innerhalb einer pragmatischen Konzeption des Fortschritts, deren Funktion sich in der Beschreibung einer vitalistischen Welt erschöpft.

Wir sind gegen die Erneuerung des klassischen Ideals, weil es zwangsläufig zu dekorativer reaktionärer Konformität, falschem Harmoniegefühl und einer Sterilisierung der lebendigen Vorstellungskraft führt.

Wir glauben, daß die orphischen Kräfte vor dem Verfall bewahrt werden müssen, gleichgültig welches gesellschaftliche System letzten Endes triumphiert.

Nicht ästhetisches Wollen ist oberstes Gesetz, sondern die Unmittelbarkeit der ästhetischen Enthüllung, die alogische Tendenz der Psyche, der organische Rhythmus der Vision im kreativen Akt.

Die unerforschte Realität kann erobert werden durch die bewußte Beschwörung eines Erstaunens, um vom Irrationalen zu einer Welt hinter der Welt fortzuschreiten.

Das transzendentale Ich mit seinen vielfachen, Millionen von Jahren zurückreichenden Schichten verbindet die gesamte Menschheitsgeschichte, Vergangenheit und Gegenwart; es erscheint im halluzinativen Einbruch der Bilder in den Traum, in den Tagtraum, in die mystisch-gnostische Trance und selbst in die Psychiatrie.

Die endgültige Auflösung des Ich im kreativen Akt wurde möglich durch den Gebrauch der Sprache als mantisches Instrument; eine solche Sprache zögert nicht, eine revolutionäre Haltung einzunehmen gegenüber dem Wort und der Syntax; wenn nötig, erfindet sie sogar eine hermetische Sprache.

Dichtung schafft eine Verbindung zwischen dem „Ich“ und dem „Du“, indem sie die Gefühle der versunkenen tellurischen Tiefen ans Licht einer kollektiven Realität und eines totalistischen Universums bringt.

Die Synthese eines wahren Kollektivismus ist möglich durch eine geistige Gemeinschaft, mit dem Ziel der Errichtung einer neuen, mythologischen Realität.

 

 

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Manifest in „Transition“, XXI, Hrsg. von Eugène Jolas. S. 148 f. Den Haag 1932.

 

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Erinnerung wird zunehmend auf neue Technologien ausgelagert. Das Grundproblem der Erinnerungskultur (siehe auch: In eigener Sache), der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage: Wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört? – „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte von KUNO. Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

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