HUCH:

Betrachtungen eines ewigen Lesers zur autobiografischen Roman-Lawine von Ilse Kilic und Fritz Widhalm

Auf einen dritten Teil des „Verwicklungsromans“ wird zum Schluss der zwei vorliegenden Teile des systematischen Romanfragments DIESES UFER IST RASCHER ALS EIN FLUSS! und NEUE NACHRICHTEN VOM GEMEINSAMEN HERD ironisch angespielt. Ich vermute, Ilse Kilic und Fritz Widhalm werden den längsten (pikaresken) Entwicklungsroman der Literaturgeschichte schreiben.

Mir fällt immerhin eine (beabsichtigte oder natürliche) Zahlenmystik auf: Der erste Teil hat 77 Kapitel und verweist in dieser Schnapszähligkeit auf eine gewisse apokalyptische Vollkommenheit hin. Insgesamt zähle ich (ohne das Null-Kapitel im ersten Teil) 138 Kapitel: Geteilt durch 2 macht 69, diese Zahl ist die neomythische Zahl der Fortpflanzung (die Brezel als damit korrespondierende Schlussvignette ist das Symbol der bürgerlichen Ehe) – und insofern wird tatsächlich die Verifizierung des Unendlichkeitsprinzips oder, genauer gesagt, des Fortzeugungsprinzips angekündigt – das stellt, literaturgeschichtlich gesehen, diesen Roman, der zwei Eltern hat, in eine Reihe mit Sternes „Tristram Shandy“, James Jooyce’ „Ulysses“ und Arno Schmidts „Zettels Traum“. Sterne erfand eine Art ‘uneigentlichen’ (oder unepischen) Erzählens aus der ironischen Distanz; Joyce die Multiperspektivität und die Selbsterzählungskraft des Sprach(spiel)materials, die Fokussierung auf eine kleine Erzählzeit als kosmischen oder atomaren Erzählkern; Arno Schmidt versuchte die möglichst große Vernetzung des Erzähl-Universums (mit Ethyms) zu erreichen, er strebte nach unendlicher Vieldeutigkeit und, analog dazu, nach einem ins Maßlose gesteigerten Medium für die Leserinterpretation als Selbsterzählung oder Nacherzählung aller möglichen universalen Geschichten. Widhalm und Kilic führen das Prinzip des unendlichen Vor- Erzählens auf der Basis einer Mixtur eben genannter Erzählprinzipien ein, um das Erzählen, das sich im Theoretischen zu verlieren droht, zu retten: Und zwar als Autorenpaar mit einer dem Leser zunächst unsichtbaren dialogischen Erzählhaltung oder Erzählerzeugungshaltung: Das Produkt ist die Synthese der Romaneltern. Erzählte Kinder werden mit der Zeit ins Spiel des multiperspektivischen Erzählgewebes gebracht. Wenn die Kinder alt genug erzählt sind, könnten sie ihre Geschichte selbst weitererzählen, vielleicht als fiktionale Autoren, sodass ein Roman im Roman entsteht – usw.

Die Textur zeichnet sich im übrigen durch lesesteuernde Mittel aus: Z. B. Quellen und deren Verdeutlichung in anderen Schriftzeichen; vor allem Fußnoten, ein Spiel mit der Methode wissenschaftlicher Darstellung – und damit auch Selbstironisierung der Erzähler und des Erzählten. Die vielen Bezüge zu Typica des Entwicklungsromans und ihren herausragendsten Werken herauszuarbeiten, bleibt Generationen von Exegeten der nazjanischen Polylogie vorbehalten, die sich zunehmend einer literarischen Lawine gegenübergestellt sehen, welche biblische Ausmaße übersteigen wird. Ein Begriff für das permanente Staunen angesichts dieser, na ja, ersehnten Sisyphos-Arbeit hat sich schon jetzt gebildet: Es ist der Huch-Effekt.

Soviel zur Form des ewigen Fragments.