Gemälderetro

 

Zwischen den Dosen von Farbe, meist sind es Pigmente, manchmal auch schon fertig angerührte Acrylfarben, teilweise auch billiges Abtönzeug aus dem Baumarkt, hat er einen Pinsel gefunden. Ein kleiner feiner Haarpinsel, vielleicht Stärke 0. Er hat sich dorthin verloren und weiß nicht warum. Herr Nipp greift ihn, tunkt ihn in das Wasser, in dem auch andere Pinsel schon stehen, alles war ausgetrocknet gewesen, nichts hatte zum Arbeiten eingeladen.

Kaum hatte man den Mut gehabt, einen Keilrahmen zu überspannen, zu grundieren, die benötigten Farben auf einen alten Porzellanteller zu platzieren, der in Ermangelung einer Palette her- halten musste. Immer wieder war er dort gewesen, in seinem alten Lebensraum, dem eigentlichen Wohnzimmer und hatte letztlich immer nur da gesessen, hatte Musik aus den achtziger und neun- ziger Jahren gehört, meist von der Schallplatte, Vinylkonserve, hatte manchmal auch das Radio bemüht, allerdings sich immer über den schlechten Empfang geärgert. Dieses Rauschen konnte die letzten Nerven rauben, nicht beim Deutschlandfunk allerdings, dort wurde ja meist nur gesprochen. Dann hatte er sich ein Buch genommen, jeder Ort seiner möglichen Aufenthalte häufte Bücher an, ganz ohne sein Zutun, es passierte einfach, er hatte gelesen und notiert manchmal oder ein Stück Bienenwachs mit den Händen er- wärmt und bedächtig zu einem kleinen Objekt (Plastik im wahrsten Sinne) verformt. Nein, das Wagnis eines Bildes hatte er derzeit nicht eingehen können, dann schon lieber Texte schreiben, die ein bisschen blödsinnig sind.

Jetzt aber mussten all die vertrockneten Pinsel gereinigt werden, so ging es nicht weiter. Er füllte sich einige Milliliter Tusche ab und setzte erste vorsichtige Linien auf die Leinwand, in die altweiße Grundierung, die gebrochene Farbe nahm ihm die Angst vor der Leere, davor, etwas falsch zu machen. Er hatte sich eine der Wachsfiguren in die richtige Position gelegt und nutzte diese als Modell für ein erstes Bild nach fünf Monaten. Tatsächlich kam er schnell voran und wurde mit der Zeit richtig zufrieden. Acrylweiß und Gelb lösten alte Pigmente vom Teller und vermengten sich zu grünlichen Tönen. Zum Abschluss wurde eine Schicht Bienen- wachs aufgezogen, dann Schellack, dieses eingeritzt und zuletzt mit einem hauchdünnen Film blauer Ölfarbe versehen. Eine dunkelleuchtende Atmosphäre entstand, mit vielen Bildüberlagerungen und Durchblicken. Ein Bild zum Erwandern und Erschließen, so dachte er zumindest.

Nach dem klärenden Gespräch ging vieles glatter von der Hand, da hatte einiges wie ein Druck auf ihm gelastet. Jetzt fühlte er sich endlich wieder frei.

Ein kompletter Borstenpinsel musste an diesem Tag dran glauben, nach und nach kurz gemalt, die Haare auf wenige Millimeter verkürzt, das war das Schicksal von Borstenpinseln, wenn man versuchte, ein Valeur zu erzielen. Da Herr Nipp nur selten teure Pinsel verwendete, war dies allerdings nicht so schlimm.

Abends suchte Herr Nipp irgendetwas in einer der vielen Schubladen seiner Planschränke und wäre fast hintüber gefallen, als er eines seiner Bilder aus den späten Achtzigern fand, hatte er als Zivi gemacht. Fettstift auf Papier. Es ist schrecklich, wenn man merkt, dass in all den Jahren nichts gelernt wurde.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421