One large form

 

Zwei Tage lang habe ich nur geweint tief in die Nacht, die Sterblichkeit der allernächsten Freundin und Geliebten, die eigene Endlichkeit war evoziert. Dann erstarb der abstrakte Hass gegen den Tod, der die Würde verletzt und die permanente Selbsterschaffung in Frage stellt. Jetzt bin ich fester und klarer. Es ist nicht das Ende einer lang gehaltenen Phase, nicht das Ende des Träumens, das zu mir gehört, die kleine Utopie meines einen Lebens. Ich behalte die literarischen Pläne. Aber die Koketterie mit dem Tod wird immer härter, strenger, kälter, heftiger, immer näher, Aug in Auge, Doppelatem.

In der Tat folgt den Erkenntnisschmerzen neues Leben, zumindest fragmentarisch, und viele Fragmente ergeben auf einmal ein Ganzes, das ist das unfassbare Geheimnis vom Umschlagen der Quantität in Qualität durch synthetische Addition.

Das Wesen des Montierens mit mehr oder weniger sichtbaren oder gar absichtlichen ‘Nähten’ unserer Lebensfragmente bedeutet und bedingt ja auch ein neues Sehen wie bei den surrealistischen oder symbolistischen Malern. Wie wäre sonst Kafka zu beurteilen, der ja mit den Nähten seiner Ideenbilder und Realitäten bewusst arbeitet – ich bin versucht zu sagen, bei Kafka ist die Naht ja schon das eigentliche Thema! Die Auflösung der Realität, die nicht mehr als Ganzheit begriffen wird, ist durch die Montage der Symbolisten und Surrealisten konsequent erweitert. Aber heute sind uns die symbolistischen und impressionistischen Bilder, die Farben unserer Gefühle und Töne unserer Augengedanken so vertraut, dass die Sichtweise ihrer Maler gar nicht mehr genügt.

Ich denke übrigens, dass die Künstler, die sich der Mythen bedienen, nur deutlicher deutend neues Sehen provozieren, und zwar im Unterschied zu den Impressionisten schon im vollen Bewusstsein des Verlusts der Ganzheit. Wahrscheinlich ist die Verwendung variierter Mythen und archetypischer Bilder das verzweifelte Festhalten an der Hoffnung, es gebe im Werden der Geschichte und der Gesellschaft wenigstens eine anthropologische Kontinuität, damit die Selbstentfremdung nicht zur linearen (suizidalen) Selbstaufhebung führt, sondern zu einer dialektischen. Natürlich liegt darin utopisches Wollen und sehnsüchtiges Wünschen.

Die Evolution des Montage-Prinzips sehe ich (vor allem bei Marcel Duchamps, Kurt Schwitters und Max Ernst, später dann totalistisch sich öffnend bei Beuys) in der unend-lichen Erweiterung des Kunst-Begriffs, der sich immer mehr auflöst ins Gesellschaftlich-Politische. Das sieht Günter Anders in seinen polemischen Dialogen über das Wesen der Phantasie und des Phantastischen in der Malerei nicht, will oder kann es nicht sehen, ich weiß das nicht, oder er sieht es eben anders als ich.

Unser Leben ist symbolisch erzählte Montage.

Ich will zeigen, dass Emanzipation, Selbstbefreiung, Selbsterschaffung also, nur unter der Bedingung einer viel schmerzvolleren Geburt als der ursprünglichen gelingt – das Überwinden der Abhängigkeiten ist immer zugleich Selbstverletzung. Auch der göttliche Autor tötet sich permanent, wenn er schreibt, und so erschafft er sich immer wieder neu.

Wer aber gar kein Künstler ist in seinem Leben, der ist eigentlich ein Tier. Ich lasse den Künstler beim Schauspieler auf der Bühne des Alltags beginnen – der stolze Gang einer schönen Frau, die zu spät in die Vorlesung kommt – und der ganze Saal vibriert, die Stimme des Professoren zittert leicht, der letzte Schritt des nackten Beins knallt ins Parkett und erschafft im Kopf eine Pause – erzeugt Verlust des Realen. Die Kunst ist der Triumph des Nichts, wenigstens des Noch-nicht-Gewordenen, des Seins, das nie werden kann, das aber werden will und im Andersgewordensein vielleicht aufscheint.

[An Holger Benkel 11.11.2000]

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.