Schaltjahrsgeschichten

 

WEIGONI: Jedermann ist ein Künstler, alles ist Alltag, nun auch die Literatur. Unterhalten wir uns über Rationalisierungs- und Recyclingtendenzen in der österreichischen Gegenwartsdichtung. Wie lange wird es deiner Einschätzung nach noch dauern, bis sich der bürgerliche Kunstbegriff auflöst?
DIETER Scherr: So dramatisch möchte ich das gar nicht sehen, und ich glaube auch nicht an eine Auflösung des bürgerlichen – ich möchte lieber sagen tradierten – Kunstbegriffs. Allerdings hat das Arbeiten mit vorgefundenem Material sowohl in der bildenden wie auch in der darstellenden Kunst doch längst die Nebenschauplätze verlassen. Es wird recycelt, dass es eine Freude ist. Besonders ausgeprägt scheint mir eine solche Tendenz in der gegenwärtigen U-Musik. Sogar im von dir so geliebten Fussballsport gibt es diese Beobachtung: Schlachtgesänge sind doch heutzutage umgetextete reisserische Popsongs, Rocknummern. Aber wir wollten doch über Gegenwartsdichtung reden!
WEIGONI: So schaut’s aus! Nachdem von den Sprachzertrümmerern nur mehr die Arrièregarde übriggeblieben ist, traut sich niemand an den grossen Wurf. Der Nachwuchs sucht die Abenteuer im Alltag. Hat sich das nicht bis zum nächsten Schaltjahr erledigt?
SCHERR: Da triffst du ins Schwarze, ich meine mit „dem grossen Wurf“. Also bitte, Gegenwartsdichtung und „grosser Wurf“, – das ist doch jenseits von Tulln. Es gibt sehr viele gute Sachen, und es gibt viele sehr gute Sachen. Es ist natürlich binsig und trivial, aber ich glaube an einen paradigmatischen Wechsel in der Dichtung. Hin zum „digitalen Code“. Das wird sicher noch dauern; ich habe keine Ahnung, welche Tendenzen und Entwicklungen dominieren werden, aber ich glaube, es wird wieder die grossen Überraschungen (die grossen Würfe) geben. Dieses Arbeiten mit vorgefundenem Material, das ja nun auch schon eine lange Tradition hat, markiert vielleicht schon einen solchen Übergang, der vielleicht nicht bloss ein gradueller, sondern ein essentieller sein wird, wer weiss. Natürlich ist auch klar, dass – welche Neuerungen es auch immer geben wird und kann – parallel dazu die konventionellen Formen weiterhin existieren. Und die originalen Sturm-und-Drang-Revival-Dichter wird es freilich auch immer geben. „Wird es geben alle Zeit“, hätte ich fast mit Butler Yeats gesagt.
WEIGONI: Dein Verhältnis zur Konkreten Poesie, zu visuellen Texten?
SCHERR: Konkrete Poesie, die ich als Gymnasiast kennenlernte, verursachte in mir zunächst skeptische Neugierde; Ablehnung und Zustimmung. Ich sehe mich heute noch in der Buchhandlung Sexl in Eisenstadt Mitte der 70-er Jahre das Reclam-Bändchen 9350/51, nach gut einer Stunde Lektüre, wieder zurück ins Regal schieben, so etwas wollte ich dann doch nicht kaufen.
WEIGONI: Ich nehme doch sehr an, du meinst „konkrete poesie“, das von Eugen Gomringer herausgegebene Reclam-Bändchen.
SCHERR: Ich besitze es heute noch. Der Grund, dass ich damals auf halbem Weg zur Schule nochmals umdrehte (und folglich auch zu spät zum Nachmittagsturnen kam), war dieses Gedicht auf Seite 42 von Heinz Gappmayr (Variationen auf „sind“), das mir noch immer, nach über zwanzig Jahren, fast ein Synonym für Konkrete Poesie ist.
WEIGONI: Awahnsinnnormal: Muss die Realität heute zur Kunst werden, um eine künstliche Realität zu schaffen?
SCHERR: Nein.
WEIGONI: Die Zeit der grossen Formen ist, so scheint es, vorbei, die Literatur ist fragmentiert; welche Antwort hast du als Autor darauf?
SCHERR:    Sekunde,
das Schilf.
– Ich antworte mit dem ersten Gedicht meines Zyklus’ „Codac“, das zugleich Motto dieses Buchs ist, Motto meiner literarischen Arbeit seit Ende der 80-er Jahre überhaupt. „Fragmentiert“ möchte ich diese allerdings nicht bezeichnen. Im Gegenteil. Meine Intention war es immer schon, eine Situation, eine Empfindung, einen Augenblick vollständig und schlüssig zur Darstellung zu bringen. Ich versuchte, Fotos mit einer Schreibmaschine zu knipsen. Die Ähnlichkeit von Bild/Foto und Gedicht war auch Gegenstand einer langen theoretischen Arbeit.
WEIGONI: Die wie aussah?
SCHERR: Eine Dissertation. Über diese Ähnlichkeit von Bild und Gedicht ist, wie ich zu meinem Erstaunen feststellte, bereits seit Horaz relativ viel geschrieben worden. Zur Erklärung seines berühmten Postulats „ut pictura, poesis erit”, dass eben die Dichtung wie die Malerei zu sein hätte, wollte ich mir zunächst klarmachen, auf welches Problem diese Konzeption eine Antwort sein will. Und besonders, wenn ich nun ein bisschen ins Detail gehen darf, ein Strukturelement fand im Kontext dieser Analoga meine Aufmerksamkeit, nämlich die Zeit. Eigentlich fanden sich mehrere (drei) Zeitmodi; abgesehen von der (a) „ersten“ Zeit (also der Uhrzeit schlechthin, die hier nicht interessiert), konstatierte ich: (b) die mimetische (nach H. Kuhner) oder imaginative Zeit, zum Beispiel der Tag, den eine homerische Aristie füllt, und (c) die Erlebniszeit einer ästhetischen Erfahrung, einer Vollzugsidentität. Dieser mimetische Zeitmodus verliert im Gedicht (einmal abgesehen von balladesken und narrativen Ausprägungen) nicht bloss an Relevanz, er scheint lediglich in winzigen, in infinitesimalen Quantitäten aufzutauchen, wenn nicht vollends zu fehlen. Dieser mimetischen Zeitmodus wird im Gedicht durch ein „ekstatisches Präsens“ ersetzt.
WEIGONI: In anderen Worten?
SCHERR: In anderen Worten: Gedicht sowie Bild oder Foto weisen die Eigentümlichkeit eines Hintereinanders – etwa der Theaterstücke oder Romane, also lineare Abläufe, Handlungen, Stränge, Leben und Sterben der Buddenbrooks… was weiss denn ich – nicht auf. Lediglich diese radikale Gegenwart. Gedicht/Bild/Foto „haben keine Zeit“ (Ernst Jandl). „Dann können Sie jedes Detail studieren, solange Sie wollen. Aber zuerst zeigt sich alles gleichzeitig.“ Ein weiteres, wenn ich nochmals ein bisschen fachsimpeln darf, Strukturelement, das mich beschäftigte, war freilich die Fläche; scheinbar noch leer, weist sie bereits positiv relevante „Spuren“ auf und rekrutiert sich selbst aus Flächen, deren Qualitäten perzeptorisch und kulturhistorisch präjudiziert sind. Die formgebende Bewegung der vorgestellten Bilder und Zeichen vollzieht sich auf diesem so gar nicht neutralen Grund, deren rechte und obere Hälfte gemäss unserer Wahrnehmung mehr an Bedeutung zukommt, und gemäss unserer Richtung der Verschriftung, also von links nach rechts, wird jedes Prozedere der Komposition entwickelt. Beziehungsweise bewusst dagegen.
WEIGONI: Diese theoretische Beschäftigung hatte offensichtlich auch grossen Einfluss auf deine künstlerische Entwicklung.
SCHERR: Mein Ehrgeiz war gross. Vielleicht liesse sich der alte Hiatus zwischen dieser imaginativen Zeit, von der ich vorhin sprach, und der Konkreten Dichtung überwinden. Vielleicht ausgerechnet von mir. Naja, was man halt so phantasiert, wenn der Tag lang ist… In „Die nackten Körper der Strauße“, das in der herbstpresse herauskam, versuchte ich, etwas von dieser imaginativen Zeit zu retten; ich mischte unter minimalistische Gedichte auch andere, längere, deren Verszeilen ich aus alten Romanen geschnipselt und montiert hatte. Eine gewisse hybridische Wirkung sowie diverse Tempora sollten zumindest nachahmend „nachahmende Zeit“ erzeugen. Werner Herbst besorgte dann Auswahl und Zusammenstellung des Bandes, Armin Guerino übernahm die graphische Gestaltung und Illustration. Anders ging ich dann bei „Codac“ vor, hier sollte über den Umweg eines Konnotats der Zahl 4 (die Jahreszeiten) so etwas wie „narrative Stimmung“ – ohne sie freilich in den einzelnen Gedichten installieren zu müssen, erzeugt werden. Und schliesslich versuchte ich in den „16 Kärtchen“ durch Korrespondenzen, Verschriftung in Kombination mit Vignetten, ein weiteres Tempus zu stiften, indem ich die Vignetten oder Bildchen ins Perfekt (also nach links) beziehungsweise in die Zukunft (nach rechts) versetzte. Usw.
WEIGONI: Es folgte der Band »Kleine Prosa«, überhaupt Prosa?
SCHERR: Die Prosa hat mich dann wieder vermehrt interessiert, nicht die traditionelle, narrative Form. Meine Überlegungen zum Gedicht hatten da kaum Einfluss. Lediglich was den Umfang betrifft, auch in der Prosa wollte ich mit den Wörtern sparen, minimalistisch vorgehen, verdichten. Schön fände ich die Bezeichnung Miniaturen, die aber falsch wäre, denn das Wort bezieht sich nicht auf das Massnehmen, sondern aufs Schreibzeug (Mine) der Schreiber und Illustratoren des Mittelalter und wir schreiben ja heutzutage mit Tasten.
WEIGONI: Als Meister der kleinen Form müsstest du Konjunktur haben…
SCHERR: Danke. Gedichte hatten nie, werden wohl auch nie Konjunktur haben, glaube ich (Ich befürchte sogar, dass Gedichte landläufig mehr und mehr mit Esoterik in Zusammenhang gebracht werden). Das Interesse wird wohl eher noch ärger abnehmen. Aber ich möchte es doch noch – nicht ganz ohne Stolz – loskriegen, dass „Codac“ das erste gewinnbringende Buch der Wiener Edition „Das fröhliche Wohnzimmer“ war. Da bin ich sehr froh darüber.
WEIGONI: Es gab auch so etwas wie eine „Codac“-Nachfolge.
SCHERR: Ja, es gab je eine Publikation der Autoren Gerald Nigl und Fritz Widhalm mit „Codac-Dichtungen“, die mir gewidmet waren. Hat mich selbstredend sehr gefreut.
WEIGONI: Wieso eigentlich „Codac“?
SCHERR: Kodak ist ein geschütztes Wort, es gehört der gleichnamigen Firma. Blaise Cendrars hatte da schon so seine Schwierigkeiten. Also Codac.
WEIGONI: Hast du dich auch aktiv mit dem Fotografieren beschäftigt?
SCHERR: Ja, als Kind. Aber nicht gründlich oder leidenschaftlich. Das war noch eine alte Rollfilm-Kamera, 6×9. Die hielt man nicht ans Gesicht, sondern an die Brust und sah aus einiger Entfernung von oben in den Sucher; mir gefiel das, da ich so beides sehen konnte, das gesamte Umfeld und den im Sucher erfassten Ausschnitt. (In dem Gedicht „vorplatz und pferde“ in „Die nackten Körper der Strauße“ ist diese eigenartige Situation so viele Jahre später nochmals nachgestellt.) Jedoch fand man allgemein zu meinen Fotos, dass die von mir ausgewählten Ausschnitte der Wirklichkeit es nicht verdienten, festgehalten zu werden. Schade um die Filme! Aber ich hatte meinerseits kein Interesse an grossen Themen, die mir ständig als Motiv vorgeschlagen wurden. Ich habe es dann bleibenlassen.
WEIGONI: Die Sache ist für dich also erledigt?
SCHERR: Nein, nicht wirklich. Ich beschäftige mich auch weiterhin mit – ein bisschen japanisch ausgedrückt – der Fotografie des Nichtstuns. Ich sammle anonyme Fotografien vom Flohmarkt, poetisches Recycling pur, Dichtung pur für mich; das gilt freilich auch für gefundene Texte: Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und so, die ich seit Jahren als Ready-mades publiziere. Diese Dichtung des Nichtstuns sehe ich auch als Abschluss meiner künstlerischen (ich mag dieses Wort nicht) Tätigkeit.
WEIGONI: Mit den „Mohs-Blättern“ und der „Kollektion“ hast du als Herausgeber und Verleger gearbeitet und die Arbeit nunmehr eingestellt, lohnt sich das Verlegen nicht mehr?
SCHERR: Nein, das ist schon länger her. Ich mag nimmer. Etwa 30 Publikationen habe ich herausgegeben, da gab es Bücher, Mappen, Multiples. Die Reaktionen auf diese Publikationen waren sehr ermutigend; die viele Arbeit oft auch lustvoll für mich. Soll’s genug sein.
WEIGONI: Kein Land scheint mehr Schriftsteller zu beherbergen als Österreich, in den Kaffeehäusern und auch auf dem Papier. Welche Erfahrungen machst du bei den IG Autorinnen Autoren, wo du seit Anfang 1996 arbeitest?
SCHERR: Ich habe keine Vergleichszahlen anderer Länder, denke aber, dass das nicht unbedingt ein auf Österreich beschränktes Phänomen ist. Bildungsniveau und Bedürfnis, aber auch Möglichkeit, sich kreativ zu betätigen, sind in den reichen Ländern gestiegen. Ich glaube nicht, dass das in Deutschland und der Schweiz viel anders sein wird. Der Unterschied ist vielleicht der, dass es hier mehr evident ist, dass man in Österreich bzw. in Wien halt möglichst „arty“ sein will, sich im Wirtshaus inszenieren will als Dichter, Poet; Künstler mit Hut, Zeitung unterm Arm und so. Bisschen peinlich, also ich lehne das ab.
WEIGONI: Deine Tage als Dichter sind, wie du vorhin gesagt hast, also gezählt?
SCHERR: Es gibt noch einige fertige Sachen, die ich vielleicht noch publizieren werde. Ansonsten möchte ich mich schriftlich nur noch meinem alten Kindheitstraum widmen, von und über meine Reisen schreiben.

 

 

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Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.