25 Jahre Werkkreis Literatur der Arbeitswelt

Den Versuchen der Schriftsteller, über das Dasein und die Lebensbedingungen der Proletarier zu berichten, haben Vorurteile im Wege gestanden, die nicht an einem Tage zu überwinden gewesen sind. Eines der nachhaltigsten sah im Proletarier den »einfachen Mann aus dem Volke«, der im Gegensatz nicht sowohl zum gebildeten als zum differenzierten Angehörigen einer höheren Schicht steht.

Walter Benjamin

Eine grundsätzliche Kritik an der Dortmunder Gruppe 61 führtevor 25 Jahren  zur Bildung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Die Gruppe 61 sah eher eine gesellschaftliche Grundübereinstimmung in der Bundesrepublik Deutschland und wollte diese weiterentwickeln. Eine Opposition innerhalb des Literatenzirkels, zu der u. a. Günter Wallraff, Erika Runge, Angelika Mechtel, Max von der Grün, Erasmus Schöfer und Peter Schütt gehörten, wollte Texte schaffen, in denen für die Arbeiterklasse Partei ergriffen wurde und in denen der gesellschaftspolitische Standpunkt der Autoren sichtbar werden sollte.

Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen. Und mit jedem sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab

Rosa Luxemburg

Ziel dieser Opposition, die schließlich den Werkkreis gründete, war es, die Etablierung von Arbeitern als Berufsschriftsteller zu fördern und die Schulung und Förderung angehender Arbeiterschriftsteller aktiv zu unterstützen. Josef Büscher gründete im Frühjahr 1968 mit Hilfe der Volkshochschule in Gelsenkirchen die erste Werkstatt für die Literatur der Arbeitswelt. Auf der Gegen-Universität in Hamburg initiierte auch Peter Schütt, lange Zeit Mitglied des Parteivorstandes der DKP, gemeinsam mit dem Bauschlosser Rainer Hirsch im Frühjahr 1968 eine Werkstatt schreibender Arbeiter.

Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.

Rosa Luxemburg

Nachdem die Kritiker der Gruppe 61 auf deren Jahrestagung am 10. Januar 1970 mit ihren Änderungsanträgen zu Programmatik und Satzung keine Mehrheit fanden, gründeten sie am 7. März 1970 den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt mit neun lokalen Werkstätten, die jeweils mit zwei Delegierten vertreten sind. Als Sprecher wurden gewählt:

Erasmus Schöfer, Werkstatt Köln

Hugo Ernst Käufer, Werkstatt Gelsenkirchen

Karl-Dietrich Bredthauer, Werkstatt Köln

Klaus Tscheliesnig, Werkstatt Tübingen

Peter Schütt, Werkstatt Hamburg

Horst Kammrad, Werkstatt West-Berlin

Der Kommunist Erasmus Schöfer, langjähriges DKP-Mitglied, wurde Erster Sprecher und legte der 2. Delegiertenversammlung einen Satzungsentwurf zur Gründung eines gemeinnützigen Vereins mit Sitz in Köln vor. Im Januar 1981 übernahm der parteilose Harry Böseke die Geschäftsführung. In der Gründergruppe geriet Günter Wallraff bald in die Kritik: er schreibe so, wie auf dem politischen Felde Spontaneisten schrieben. Das war für die Vertreter entschlossener Parteilichkeit unter den Gründern, wie Runge, Schöfer und Schütt, nicht akzeptabel. Schon bei der ersten Arbeitstagung in Gelsenkirchen am 27. Juni 1970 wurde die „verengte Literaturauffassung“ in den Vorträgen der Referenten Wallraff und Friedrich G. Kürbisch kritisiert.

Gibt es Schreiben, sofern von dieser Tätigkeit als Kunstform die Rede sein soll, anders als durch das Engagement des oder der Schreibenden? Mit Sicherheit gibt es Hunderte von Aussagen der so Tätigen, dass künstlerisches Schreiben das Aufsspielsetzen der eignen Sicherheit, wenn nicht der Existenz bedeutet, voraussetzt, bewirkt. Mindestens: Hingabe.

Erasmus Schöfer

Die führende Rolle von Mitgliedern der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt war langfristig angelegt. 1971 unterlag der Mannheimer Autor Reinhard Welz mit dem Versuch, durch Satzungsänderung den Mitgliedern zu untersagen, sich in der Werkkreis-Arbeit für politische Organisationen auszusprechen; man einigte sich mehrheitlich auf ein Selbstverständnis als „parteiunabhängige Organisation auf gewerkschaftsprogrammatischer Grundlage, in der sozialdemokratische, kommunistische und parteilose Kollegen zusammenarbeiten“. Im gleichen Jahr wurde ein Boykott der Verlage Springer und Bertelsmann beschlossen. Auf der Sprecherratssitzung vom 10./11. Juni 1972 wurde Welz ausgeschlossen. Auch der Hamburger Werkstatt-Mitgründer Rainer Hirsch, der von Oktober 1973 bis Sommer 1977 eine Halbtagsstelle als hauptamtlicher Geschäftsführer des Werkkreises bekleidet hatte, wurde bei einer Sprecherratssitzung (3./4. Juni 1978) wegen „werkkreisschädigenden Verhaltens“ ausgeschlossen.

Der Werkkreis zählt zu seiner besten Zeit an die 500 ‚schreibende Arbeiter‘. Kein echter Prolet ist darunter. Der Einzige, Gerd Sowka, wird schon 1972 wegen mangelnder Linientreue ausgeschlossen.

Peter Schütt

Im Mai 1978 tauchte der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt als Nr. 236 auf einer geheimen Liste mit dem Titel Linksextremistisch beeinflusste Druckwerke und Organisationen auf, die zur Ausspähung an Grenzübergängen diente. Proteste gegen diese Liste trugen mit zum Rücktritt des damaligen Innenministers Werner Maihofer bei. Kontroversen im Sprecherrat verursachte Ende 1976 die Unterschrift des Werkkreis-Sprechers Jürgen Alberts unter einem Protesttelegramm gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR.

Es geht alles seinen geregelten sozialistischen Gang.

Wolf Biermann

Bei der 10. Delegiertenversammlung 1981 in Kamp-Lintfort wurde der Friedensaktivist Klaus D. Bufe zum Ersten Sprecher gewählt. Auf der 11. Versammlung vom 16. bis 19. Juni 1983 in Duisburg löste ihn Harry Böseke ab, dem 1985 Heinrich Droege nachfolgte. Dieser trat im Dezember 1986 zurück, nachdem der S. Fischer-Verlag die Verträge mit dem Werkkreis wegen schlechter Absatzzahlen gekündigt hatte. Auch der BUND-Verlag beendete im Januar 1991 die Zusammenarbeit. Es folgte eine jahrelang anhaltende Finanz- und Führungskrise.

Avanti Popoloch!

Eva Kurowski über ihre sozialistische Kindheit im Ruhrgebiet

Nach dem Ende der DDR bemühte man sich um die Integration der Zirkel schreibender Arbeiter. Dieses Vorhaben schlug trotz einer gemeinsamen Veröffentlichung jedoch fehl.

 

 

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25 Jahre Widerstand Wahrheit Kritik. Hrsg. v. Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, München 1995

Im Fischer Verlag erschienen bis Januar 1988 im Rahmen einer Taschenbuchreihe 60 Titel des Werkkreises mit einer Gesamt-Auflage von über 1 Million Büchern; später erschienen sie teils im Selbstverlag, teils im gewerkschaftsnahen Bund-Verlag und bei ASSO in Oberhausen.

Weiterführend →
Der letzte Arbeiterdichter Österreichs, vorgestellt von Peter Paul Wiplinger.
Eine Chronik der deutschen Arbeitslosen, dargelegt von Walter Benjamin.
Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften, analysiert von Rosa Luxemburg

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