Mädchenlied

 

Einige Mädchen brachten dem alten Schwaning einen frischen Kranz. Er setzte ihn auf, küßte sie, und sagte: Auch unserm Freund Klingsohr müßt ihr einen bringen, wir wollen beyde zum Dank euch ein paar neue Lieder lehren. Das meinige sollt ihr gleich haben. Er gab der Musik ein Zeichen, und sang mit lauter Stimme:

 

Sind wir nicht geplagte Wesen?

Ist nicht unser Loos betrübt?

Nur zu Zwang und Noth erlesen

In Verstellung nur geübt,

Dürfen selbst nicht unsre Klagen

Sich aus unserm Busen wagen.

 

Allem was die Eltern sprechen,

Widerspricht das volle Herz.

Die verbotne Frucht zu brechen

Fühlen wir der Sehnsucht Schmerz;

Möchten gern die süßen Knaben

Fest an unserm Herzen haben.

 

Wäre dies zu denken Sünde?

Zollfrey sind Gedanken doch.

Was bleibt einem armen Kinde

Außer süßen Träumen noch?

Will man sie auch gern verbannen,

Nimmer ziehen sie von dannen.

 

Wenn wir auch des Abends beten,

Schreckt uns doch die Einsamkeit,

Und zu unsern Küssen treten

Sehnsucht und Gefälligkeit.

Könnten wir wohl widerstreben

Alles, Alles hinzugeben?

 

Unsere Reize zu verhüllen,

Schreibt die strenge Mutter vor.

Ach! was hilft der gute Willen,

Quellen sie nicht selbst empor?

Bey der Sehnsucht innrem Beben

Muß das beste Band sich geben.

 

Jede Neigung zu verschließen,

Hart und kalt zu seyn, wie Stein,

Schöne Augen nicht zu grüßen,

Fleißig und allein zu seyn,

Keiner Bitte nachzugeben:

Heißt das wohl ein Jugendleben?

 

Groß sind eines Mädchens Plagen,

Ihre Brust ist krank und wund,

Und zum Lohn für stille Klagen

Küßt sie noch ein welker Mund.

Wird denn nie das Blatt sich wenden,

Und das Reich der Alten enden?

 

 

 

***

Heinrich von Ofterdingen ist ein Fragment gebliebener Roman von Novalis (aka Friedrich von Hardenberg), der im Laufe des Jahres 1800 entstand und erst 1802 postum von Friedrich Schlegel veröffentlicht wurde. Der Titel verweist auf einen sagenhaften, historisch nicht belegten Sänger des 13. Jahrhunderts, der u. a. aus dem Fürstenlob im mittelhochdeutschen Epos Sängerkrieg auf der Wartburg (mhd. Singerkriec ûf Wartburc; entstanden um 1260) bekannt ist.

Das grundsätzliche Thema des Ofterdingen ist die Poesie im weiteren, romantischen Sinne einer Poesie des Lebens. Novalis selbst bezeichnet den Roman als „Apotheose der Poesie“. Für ihn ist die einzige Darstellungsform der Poesie im weiteren Sinne die Poesie im engeren Sinne, das heißt die Dichtung. Der romantische Grundgedanke, dass Leben und Kunst aufeinander verweisen und sich wechselseitig fordern, ist darin erkennbar. Das Ich ist in unendlichem Fortschreiten begriffen auf dem Weg zu einer höheren, einheitsstiftenden Totalität von Natur und Mensch. Diese Universalität des Poesiebegriffs wird im Ofterdingen mit der Wissenschaft verknüpft. Außerdem wird der Leser zur gedanklichen Selbsttätigkeit aufgefordert, da sich der Gehalt des Textes nicht durch das bloße Lesen erschließt, sondern eine vertiefende Betrachtung erfordert. Das bekannte und für die Romantik sinnbildlich gewordene Symbol der blauen Blume entstammt dem Heinrich von Ofterdingen.

 

Weiterführend → 

Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.