Nusskuchen

Nur dafür war er so früh aus dem Haus gegangen, hatte sich nicht an den Rechner gesetzt, um die Mails der letzten Stunden abzurufen. Zügig fertig gemacht stand Herr Nipp schon gegen sieben Uhr auf der Straße. Das T-Shirt saß nicht gerade optimal, aber das war jetzt nicht so wichtig. Das rote Fahrrad, welches er in der vergangenen Woche wieder flott gemacht hatte, war gerade richtig aufgepumpt. Die Luft wehte ihm um die Nase. Erst auf halber Strecke merkte er, dass er sowohl die obligatorische, gestreifte Tasche als auch den dunkelgrauen Schutzhelm vergessen hatte. Das war jetzt vielleicht ein bisschen ärgerlich, aber er wusste auch, wenn er nun zurückfahren würde, wäre es vielleicht schon zu spät. Manchmal ist der richtige Zeitpunkt ausschlaggebend für den Erfolg. Das gilt für alle Bereiche des Lebens. Jeder weiß es, doch meist versuchen wir es zu verdrängen: Der richtige Zeitpunkt kann über ganze Lebensentwürfe entscheiden, über Männlichkeit und Weiblichkeit, über Armut und Reichtum, Erfolg und Scheitern. Über nass und trocken, über Freund- und Partnerschaft, über Liebe, Gleichgültigkeit und Hass. Wahrscheinlich auch über Krieg und Frieden, wobei das fast schon fraglich ist, geht es doch beim Krieg fast ausschließlich um wirtschaftliche Interessen und menschliche oder gesellschaftliche Hybris. Die Auflistung könnte aber trotz des letzten Punktes sicher bis fast ins Unendliche fortgesetzt werden. Jeder Leser weiß das. Kennt er doch Situationen, die einschneidend für das eigene Leben sind, sei es, dass man beim Zwiebelschneiden abgelenkt das Messer versehentlich durch die Fingerkuppen versenkt, auch weil man den Krallengriff mal wieder nicht angewendet hatte. Sei es, weil man beim Käseschneiden an der guten Maschine von Graef nicht bemerkt, dass das Stück schon am Ende ist oder man es falsch angefasst hat. Schon beim flüchtigen Gedanken daran mag sich einigen Menschen einiges zusammenziehen, als würde man in viel zu kaltes Wasser springen.

Einige Minuten später stand er schon auf dem Marktplatz. Die Bauern, welche ihre Ware selbst vermarkten, zeigten wieder ein üppiges Angebot in allen Farben. Man darf nicht unterschätzen, was die heimische Landwirtschaft bis in den späten Herbst zu produzieren vermag. Da gibt es nicht nur Zwiebeln und Kartoffeln, auch die vielen verschiedenen Kohlsorten und Salate, die Möhren, Rüben und Pastinaken, auch Kürbisse, Rote Beete, Tomaten. Ja, jetzt läuft sicher einigen das Wasser im Munde zusammen und die einschneidenden Erlebnisse von vorhin sind vergessen.

Also zunächst an diesem einen Stand einen Beutel voll Rosenkohl erworben. Dann schnell weiter. Wer die Regeln des Samstagmorgenmarktes, von einigen auch Wochenmarkt genannt, kennt, der weiß, dass es an einigen Ständen nur ganz früh morgens bestimmte Waren überhaupt noch gibt. Dazu gehören frisch geerntete Rosenköhlchen und vor allem Bruchwalnüsse. Die kosten nämlich die Hälfte. Tatsächlich fand er am Walnussstand, der eigentlich sonst nur Eier und Äpfel verkaufte, allerdings im Herbst die Walnüsse, manchmal auch Haselnüsse, vom eigenen Hof und aus der Nachbarschaft, das Gewünschte. Da die heutigen Wirtschaftsbauernhöfe gut gepflastert sind, kann man davon ausgehen, dass ein Teil der Ernte bei Aufprall zerbricht. Der normale Kunde möchte nun allerdings unversehrtes Material erwerben. Also werden die Früchte mit zerstörter Schale aussortiert und günstig abgegeben. Ein Jahr zuvor hatte ein Kilogramm heiler heimischer Fettlieferanten noch 3,50 Euro gekostet, inzwischen hatten die Händler wohl den wahren Wert ihrer runden Schätze erkannt und den Preis um 50 Cent herauf gesetzt. Nur die Bruchnüsse kosteten immer noch 2 Euro. Anderthalb Kilo konnte Herr Nipp an diesem Morgen noch ergattern. Die Frau, die neben ihm stand und die gleichen hatte erwerben wollen, hatte das Nachsehen. Mit leicht vorwurfsvollem Blick sah sie, wie die grüne Plastiktüte gefüllt wurde und diese über den Tresen ging. „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, hätte Herr Nipp nun sagen können, verbiss sich die Floskel jedoch. Er würde niemals Würmer essen wollen. Außerdem wäre ihm dies sicher als schändliches Fehlverhalten ausgelegt worden. Dabei hatte er doch lediglich eine gewisse Unruhe und wollte nach Hause kommen.

Zu Hause würde die Beute direkt geknackt und daraus ein Kuchen gebacken. Nusskuchen ist manchmal das Größte. Vor allem jedoch im Wissen, schneller als andere gewesen zu sein.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421