Abfall der Geschichte

Die Arbeit über die Passagen setzt ein immer rätselhafteres, eindringlicheres Gesicht auf und heult nach Art einer kleinen Bestie in meine Nächte, wenn ich sie tagsüber nicht an den entlegensten Quellen getränkt habe. Weiß Gott was sie anrichtet, wenn ich sie eines Tages frei lasse.

Walter Benjamin in einem Brief an Gershom Scholem vom 24. Mai 1928

Das Passagen-Werk ist ein unvollendetes, philosophisch-literarisches Projekt, an dem Walter Benjamin ab 1927 bis zu seinem Tod 1940 gearbeitet hat. Er entwarf darin eine Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts, explizit aus der Sicht des 20. Jahrhunderts, in der Systematik eines historischen Materialismus, verknüpft mit theologischen Momenten. Damit führte er verschiedene Fäden aus seinen früheren Werken zusammen. Während die frühen Entwürfe an das surrealistische Werk Le paysan de Paris (1926) von Louis Aragon mit seiner Beschreibung der 1925 abgerissenen Pariser Opernpassage anknüpfen, das er teilweise ins Deutsche übersetzte, distanziert er sich später von Aragon. Die umfangreiche Sammlung in Benjamins Nachlass besteht aus zwei Exposés („Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“) und mehreren tausend, thematisch geordneten Notizen, Zitaten und Exzerpten. Sie wurde erstmals 1982 unter eben dem Titel Passagen-Werk als Band V der Gesammelten Schriften mit weit über 1000 Seiten veröffentlicht und gilt als eines der bedeutendsten Fragmente der deutschen Literatur.

Der Titel Passagen geht zurück auf die überdachten Ladenpassagen, die ab dem frühen neunzehnten Jahrhundert zunächst in Paris entstanden.

Benjamin sammelte als Flaneur – und diesen Begriff füllend – Hintergründe über ebendiese Pariser Passagen, Straßen und Warenhäuser, auch Panoramen und Weltausstellungen, schrieb seine Gedanken über Mode, Prostitution und Reklame auf und wollte eine dialektische Feerie entwerfen, in der die Entwicklung des Kapitalismus anhand der Lebenswelten der Metropole illustriert wird. Ursprünglich plante er einen Essay von fünfzig Druckseiten, doch es wurde zu einer ausgeuferten Stoffsammlung, die er in den folgenden Jahren in sechsunddreißig Konvolute zusammenfasste, thematisch locker geordnet, und mit Schlagworten versah.

Sammlung und Manuskript hatte Benjamin 1940, als er vor der in Frankreich einmarschierten deutschen Wehrmacht floh, seinem Freund Georges Bataille anvertraut, der als Bibliothekar in der Bibliothèque nationale de France arbeitete und der es dort versteckte. Nach dem Krieg leitete dieser einen Teil an Theodor Adorno weiter, doch führten die Nachkriegswirren zu einigen Schwierigkeiten in der Übergabe und somit zu einiger Verzögerung, so dass Adorno den Nachlass Anfang 1947 in Empfang nahm. Weitere Teile wurden im Jahr 1981 in der Bibliothèque Nationale ausfindig gemacht und gelangten schließlich nach einigen juristischen Auseinandersetzungen um die Eigentumsrechte zu den Beständen des Nachlasses.

Das Passagen-Werk wurde in vielfältiger Weise rezipiert und weit mehr als andere Arbeiten Benjamins spekulativ interpretiert. So hat zum Beispiel Theodor Adorno gemutmaßt, dass Benjamin die Zitate als solche veröffentlichen wollte und durch die Anordnung die theoretischen Überlegungen von selbst hervortreten würden.

Von den im Umkreis des Passagen-Werks, an dem Benjamin seit 1927 arbeitete, entstammenden Baudelaire-Aufsätze erschien nur einer zu Lebzeiten: Über einige Motive Baudelaires (1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung). Zwei vorangegangene Versuche scheiterten am Einspruch Adornos.

Die Rivalität von Theoror Wiesengrund Adorno und Walter Benjamin

Über Benjamins Verhältnis zum Institut für Sozialforschung, vornehmlich zu Adorno, ist viel geschrieben worden. Sein Einfluss auf die Kritische Theorie war bedeutend. Er erfolgte über Adornos enge freundschaftliche Verbundenheit mit ihm; sie war nicht frei von Rivalitäten und durch seine materielle Abhängigkeit vom Institut während des Exils eine durchaus asymmetrische Beziehung. In der französischen Emigration waren die finanziellen Zuwendungen des Instituts seine wichtigste Einnahmequelle. Neben den Honoraren für Aufsätze und Rezensionen in der Instituts-Zeitschrift erhielt er ab dem Frühjahr 1934 ein monatliches Forschungsstipendium von 500 französischen Francs, die ab Ende 1937 in US-Währung von 80 Dollar direkt von New York überwiesen wurden. Sie reichten indes zur Existenzsicherung nicht aus. Zusätzliche kleinere Geldgeschenke von Freunden, darunter auch „zahlreiche Geldüberweisungen“ von Gretel Adorno, konnten nicht verhindern, dass er in immer billigere Hotels wechseln musste.

Benjamins Veröffentlichungen in der Zeitschrift für Sozialforschung wurden von Horkheimer und Adorno angeregt, redigiert, gekürzt und teilweise zurückgewiesen. Dabei fungierte Adorno als „redaktioneller Torhüter“ für die von Benjamin der Zeitschrift angebotenen Essays. Reine Auftragsarbeiten waren die Aufsätze Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers (1934), Probleme der Sprachsoziologie (1935), der mit dem inadäquaten Untertitel Eine Sammelrezension veröffentlicht wurde, und die Arbeit Eduard Fuchs, der Sammler und Historiker (1937), die Benjamin nur mit Widerwillen verfasste, daneben mehrere kürzere Rezensionen. Bereits diese Beiträge erschienen nicht ohne redaktionelle Eingriffe. Von „erheblichen Entstellungen und Lücken“ berichtete Benjamin an Scholem im Falle des Aufsatzes über die französischen Schriftsteller; im Fuchs-Aufsatz wurde der erste Absatz mit Erörterungen über eine „marxistische Kunsttheorie“ und weitere Passagen gestrichen.

Zu teils heftigen Konflikten führten die auf Benjamins eigener Initiative entstandenen und eingereichten Arbeiten. Dies waren zum einen der Kunstwerk-Aufsatz, zum anderen die aus dem Umkreis des Passagen-Werks stammenden Arbeiten. Der Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erschien 1936 in einer stark gekürzten französischen Übersetzung von Pierre Klossowski in der Zeitschrift für Sozialforschung. Eine französische Übersetzung war im Sinne Benjamins; er hoffte damit, sich in französischen Intellektuellenkreisen bekannt zu machen. Die von Horkheimer veranlassten, auf eine politische Entschärfung hinauslaufenden Kürzungen stießen hingegen auf Benjamins anfänglichen Protest, bevor er schließlich „kapitulierte“ und Horkheimers Streichungen akzeptierte. Adorno artikulierte seine Kritik in einem umfangreichen, acht Schreibmaschinenseiten umfassenden Brief an Benjamin, in der er seine gegenteilige Auffassung von der modernen Kunst darlegte, insbesondere mit der Verteidigung der Autonomie der Kunst und der Betonung der ästhetisch-immanenten Technologie gegenüber der von Benjamin herausgestellten Reproduktionstechnik. Wesentlich unverblümter kritisierte er Benjamin im internen Briefverkehr mit Horkheimer: „Dazu die professoral romantischen Vorstellungen von der Technik. Er hat wirklich etwas von einem wahnsinnig gewordenen Wandervogel und die Emanzipation von Brecht ist ihm längst nicht gelungen“.

Eine glatte Ablehnung erfuhren zwei Arbeiten aus dem Passagen-Komplex: „Paris, die Hauptstadt des XIX, Jahrhunderts“, ein Exposé von 1935, und „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“ (1938). Die erste Arbeit hatte er zunächst enthusiastisch begrüßt (Brief v. 5. Juni 1935), unterzog sie aber wenige Monate später (Brief v. 2.–4. August 1935) einer harschen Kritik, in der er die „Psychologisierung des dialektischen Bildes“ und die Rückbindung der klassenlosen Gesellschaft an den Mythos monierte. Den Druck des zweiten Textes verhinderte er mit dem Argument, dass er es „methodisch unglücklich“ halte, „einzelne sinnfällige Züge aus dem Bereich des Überbaus ‚materialistisch‘ zu wenden, indem man sie zu benachbarten Zügen des Unterbaus unvermittelt und wohl gar kausal in Beziehung setzt. Die materialistische Determination kultureller Charaktere ist möglich nur durch den Gesamtprozess“ (Hervorh. i. O.). Damit würden „dem Marxismus Tribute [gezollt], die weder diesem noch Ihnen recht anschlagen“. Erst die aus der „Nachprüfung der Gesamtkonstruktion“ hervorgegangene Überarbeitung mit dem Titel „Über einige Motive bei Baudelaire“, die einige Themenkomplexe und Formulierungen aus der vorangegangenen Arbeit aufgenommen hatte, wurde von Adorno mit großem Lob akzeptiert. Nach der Interpretation von Rolf Tiedemann habe Benjamin sich die Adornoschen Vorbehalte zu eigen gemacht. Der neue Text kenne „keine metaphorischen Parallelitäten mehr zwischen den Gebilden des Überbaus und ihrer gesellschaftlichen Basis“. Die Arbeit erschien schließlich 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung.

Burkhardt Lindner, langjähriger Leiter der Arbeitsstelle Walter Benjamin an der Frankfurter Universität und Herausgeber des Benjamin-Handbuchs, machte bei Horkheimer und Adorno die Tendenz ausfindig, „Benjamins theoretische Eigenständigkeit und intellektuelle Kreativität, von deren weitreichenden Impulsen sie selbst profitierten, zu bevormunden“ und insbesondere den als „wahres Unglück“ angesehenen Einfluss Brechts zurückzudrängen.

Die „Minina Moralia“ eine Coverversion von Benjamins „Einbahnstrasse“

KUNO viel auf, dass Theodor Adorno mit der „Minina Moralia“ eine Coverversion von Benjamins „Einbahnstrasse“ geschrieben hat. Keine sonderlich erhellende Erkenntnis, also haben wir uns mal das Verhältnis der beiden angeschaut.

Was den intellektuellen Austausch zwischen Adorno und Benjamin anbelangt, so war dieser ungleichgewichtig. Während Benjamin nur vereinzelt Adornos Arbeiten zur Kenntnis nahm, und sie dann zumeist wohlwollend beurteilte, kritisierte Adorno zahlreiche Arbeiten Benjamins, nicht nur die der „Zeitschrift für Sozialforschung“ eingereichten. Intellektueller Nutznießer ihrer beider Beziehung war Adorno. Benjamins Biographen, Howard Eiland und Michael Jennings, urteilen, dass „der Ideenfluss zwischen beiden unzweifelhaft als Einbahnstraße verlief“. Nicht immer redlich übernahm Adorno Benjaminsche Ideen und Motive. In der Fachliteratur reichen die Bezichtigungen von „verschwiegener Aneignung“ bis zum „unverhüllten Plagiatsvorwurf“. Häufig ist Adornos Lob Benjaminscher Theoreme vom „IBAH (ick bin all hier)-Syndrom“ begleitet, nämlich mit dem Hinweis, dass „er selber Ähnliches, ob nun veröffentlicht oder nicht, schon früher gedacht habe“.

Schon in seiner ersten Buchpublikation, der Habilitationsschrift über Kierkegaard und vollends in seiner Antrittsvorlesung von 1931, „Die Aktualität der Philosophie“, orientiert Adorno sich an Gedankengängen Benjamins. Die verschwiegene Übernahme eines wichtigen Gedankens Benjamins (nach dessen Einschätzung: eines „völlig unverwechselbaren […] neuen Gedankens“) aus der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspiel-Buches in die Antrittsvorlesung veranlasst Benjamin zu dem brieflichen Kommentar: „Ich an meiner Stelle hätte hier den Hinweis auf das Barockbuch nicht unterlassen können. Muss ich nun nicht hinzufügen: ich an Ihrer Stelle noch viel weniger“

In der Dialektik der Aufklärung haben die Autoren drei zentrale Ideen aus dem hinterlassenen Manuskript „Über den Begriff der Geschichte“ (auch unter dem Titel „Geschichtsphilosophische Thesen“ veröffentlicht) übernommen, ohne den Text zu zitieren. Es handelt sich, Detlev Schöttker zufolge, um die Verknüpfung von Kultur und Barbarei, die Auffassung der Geschichte als Katastrophe und die Verschränkung von technischer Naturbeherrschung und gesellschaftlichen Rückschritten.

Nach Adornos Rückkehr aus dem amerikanischen Exil setzte er die verdeckte Aneignung Benjaminscher Ideen in seinen Essays fort; Schöttker listet allein neun Arbeiten aus den Noten zur Literatur auf, in denen er sich an entsprechenden Essays Benjamins orientiert habe, ohne den Bezug auszuweisen.

In den 1950er Jahren war es Adorno, der zusammen mit Gershom Scholem Benjamins Schriften der deutschsprachigen Öffentlichkeit erstmals wieder bekannt machte. Adornos Initiative und Herausgeberschaft waren es, mit der Unterstützung seines Mitarbeiters Rolf Tiedemann, zu verdanken, dass der Suhrkamp Verlag nach und nach Benjamins Bücher und nachgelassene Schriften mit zunehmendem Erfolg veröffentlichte.

 

 

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Vor 100 Jahren wurde Walter Benjamin in Berlin geboren. KUNO erinnert an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.