Der chinesische Henkerwettstreit

 

Ein einziges Mal trafen sich die zwei besten Henker Chinas. Sie wollten wissen, wer die Kunst der Enthauptung besser beherrschte. Als Delinquenten, die bei dem Wettstreit der beiden Henker zu enthaupten waren, kamen nur Liebhaber der Wahrheit in Frage, die die vollkommene Enthauptung nicht als Handwerk, sondern als absolute Kunst begriffen: Die Henker selbst. Die beiden Rivalen mussten sich also gleichzeitig köpfen. Das Ziel der Meister war die reine Enthauptung, bei der das Schwert den Kopf vom Rumpf ganz trennt, der Kopf aber auf dem Hals stehen bleibt.

Die Henker schritten zum Richtplatz. Sie duldeten kein Publikum außer sich selbst. Sie standen einander gegenüber, schauten sich kühl lächelnd an, gaben sich die Hand, dann griffen sie zum Schwert, und auf ein gemeinsames leises Nicken mit dem Kopf schwang jeder sein schweres Schwert mit der lang gekrümmten scharfen Klinge und führte den Hieb durch den Hals des anderen. Die Schwerter fielen zu Boden. Die geköpften Henker standen fest auf beiden Beinen, die Köpfe blieben auf ihren Hälsen. Sie spürten keinen Schmerz. Sie starrten sich an. Sie hatten diesen Augenblick erwartet, aber sie hatten nicht gewusst, dass er so lange dauert. Keiner wagte eine Bewegung.

Da merkten sie, dass ihre Herzen schlugen, und sie spürten, wie ihr Leben die Kunst widerlegte. Als der eine endlich nickte (und sein Kopf nicht fiel), nickte auch der andere, und sie wussten nun, was sie immer schon wussten: Das Leben ist absurd.

 

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.