Der Jubiläumsband der Jubiläumsbände

 

Die Geschichte dieses Buches ist bekannt, unter den Bestsellern des letzten Jahrhunderts ist sie eine der reizvollsten und zugleich umstrittensten. Ungewöhnlich, da es in der im Zuge von bürgerlichem Realismus und dessen Ausformungen bis zur Dekadenz und seiner großen Renaissance im Umkreis von Mann die aufkommende Präferenz der großen Prosaformen miniaturesk verschwiemelt, inhaltlich zugleich frappierend umgeht. In der heutigen literaturbetrieblichen Verfasstheit, da die Bevorzugung der großen Form sich zu einem regelrecht pervertierten ‚Roman-Wahn‘ ausweitet, ist es fraglich, ob der „Cornet“ in seiner absichtlichen Zerstücktheit einen solchen kometenhaften Aufwind hätte hinlegen können; Ausnahmen bestätigen die Regel, aber sie sind eben sehr rar.

Was zur Ambivalenz der Sache beiträgt – immer wieder kommen Verweise auf die Millionen Tornister auf, in denen die Soldaten der letzten Kriege die in Miniaturen angelegte kleine Erzählung mitführten und quasi in den Kampf mitnahmen. Es bleibt die Frage, ob dieser Umstand und seine Formen der Interpretation uns wirklich etwas über die Wirkweise dieses Buches erzählen. Der Untergang des Haupthelden mag als heroisch einordenbar sein, er schleift allerdings zugleich etwas Überstürztes und letztlich Dümmliches mit sich. Die Entscheidung, sich vom Kampfesruf aus dem Bett der Geliebten reißen zu lassen und de facto nackt in den Untergang zu galoppeln, hat etwas von einem Fatum, das in einer tragischen Oper zu verhandeln wäre. In der Tat hat die Komposition nebst oder gerade aufgrund ihres lyrischen Beiklangs hohe musikalische Qualitäten.

So besehen, wandelt sich das verdrehte Bild zum Sittengemälde, aus den kriegerischen Ur-Gebresten der Menschheit wird zugleich die subjektive Geworfenheit des Einzelnen in ihnen herausmodelliert. Der Held torkelt also mehr oder weniger mit Blindheit geschlagen seinem Unglück zu, das ihm, der letztlich ein großäugiges Jüngelchen mit Sehnsucht nach Erfüllung ist, sogleich widerfährt. Am Ende des Buchs ist nicht nur die Geliebte verloren, es bleibt nichts als die liebende Mutter, deren schreckliche Aufgabe darin besteht, ihren gefallenen Sohn zu beweinen. Die Essenz des Texts, laut Rilke „das unvermutete Geschenk einer einzigen Nacht“, ist die Desillusion über den Sinn und Scheinsinn des menschlichen Treibens – letztere ist auch der Schlüssel zur Botschaft des ‚Cornet‘.

Die Legende aus dem habsburgisch-osmanischen Krieg 1663/64 steht am Anfang einer Buchreihe, die Literatur- und Verlagsgeschichte geschrieben hat. 1912 erschien die „Weise“ als erster Band der Insel-Bücherei und avancierte zum Überraschungserfolg: innerhalb des ersten Jahres konnten 22.000 ‚Cornets‘ abgesetzt werden, 1962 erreichte das Werk die Grenze der Millionenauflage. Die ‚Rilke-Hausse‘, von der Anton Kippenberg, der nicht weniger legendäre Verlagsleiter der ‚Insel‘, spricht, reißt alle anderen Bücher des Autors wie auch die übrigen Bände der jungen Reihe auf einer Erfolgswelle mit, die ihresgleichen sucht. In ihrem Fahrwasser wird die ‚Insel-Bücherei‘ zu dem publizistischem Faszinosum, das Leser wie Sammler bis heute in Atem und Bann hält.

Zum einhundertsten Geburtstag der Reihe wird „Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke“ in besonderer Ausstattung vorgelegt und bildet somit den Jubiläumsband innerhalb der Jubiläumsedition. Die grafische Gestaltung des Buches oblag Karl-Georg Hirsch, einem Holzstecher und Buchgestalter von mindestens europäischem Rang, der für den Glanz von wenigstens zehn Insel-Bänden verantwortlich zeichnet. Hirschs expressive Meisterschaft fügt sich dem Textkonstrukt kongenial bei – ja, man wagt zu behaupten, die Tiefe der hier angewandten Technik der Schabblätter schickt sich an, das Ausgangsmaterial an Schärfe von Zeit zu Zeit um ein Erhebliches zu übersteigen. Nicht zuletzt ist es die Feinheit der fünfzehn Grafiken, ihre abgründige Nuanciertheit, die, in Originalgröße abgedruckt, die Neuausgabe dieses Textes zu einem Erlebnis werden lassen.

 

 

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Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, von Rainer Maria Rilke. Insel Verlag, Berlin 2012.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Lesen Sie auch den Essay von Rainer Maria Rilke auf KUNO über Moderne Lyrik.