Siegolf Dinkel der Impressionist

  1. Siegolf Dinkel ist Athletiker.
  2. Siegolf Dinkel in der Selbstdarstellung: Siegolf Dinkel eine Brücke.
  3. Siegolf Dinkel isst im Sommer ausschliesslich Grill- und im Winter nur gekochtes Fleisch.
  4. Siegolf Dinkel findet Kuhfladengeruch im positiven Sinne atemberaubend.
  5. Siegolf Dinkel glaubt nicht, dass er ausgewachsen ist.
  6. Siegolf Dinkel schreibt orthographisch miserabel.
  7. Letztes unspektakuläres Ereignis im Leben von Siegolf Dinkel: Siegolf Dinkel kann sich nur an spektakuläre Ereignisse erinnern und diese sind Jahre her.
  8. Siegolf Dinkel möchte, dass in Europa die Weingläser nach amerikanischem Vorbild eingeschenkt werden nämlich voll.
  9. Siegolf Dinkels Hobby: Taucheranzüge samt Ausrüstung anprobieren.
  10. Siegolf Dinkel ist Siegolf Dinkel.

Siegolf Dinkel ist im weitesten Sinne ein Bauchredner, einzig mit dem Unterschied, dass gängige Bauchredner den Mund bewegen und sich verlautbaren. Siegolf hingegen redet nicht, was aber nicht heisst, dass Siegolf schweigt. Siegolf spricht stumm. Siegolf spricht in sich hinein so wie ein Geiger eine Geige bespielen würde, deren Saiten und Bogen sich im Innern des Geigenkörpers befänden. Doch eine solche Geige gibt es nicht. Siegolf aber macht auf seine Weise wunderbare Musik. Niemand hört sie und auch Siegolf muss in sich gehen, um ihre Vielfalt mitzubekommen. Siegolfs Innenräume sind zudem voll schönster Bilder, erfüllt von warmem Licht. Siegolf ist in der Lage, die Wirklichkeit ausserhalb seiner inneren in aller Detailtreue in sich selber einzufangen. Er lebt zwar in sich gekehrt, doch nimmt Siegolf auf diese sinnliche Weise derart viele Bilder in sich auf, dass er innerlich schon ganz verbeult ist. Beim Sammeln und Aufbereiten von Informationen verläuft alles richtig. Es hadert bei Siegolf erst dann, wenn es zur Formulierung kommen sollte. Siegolf hegt eigentlich sehr schönes Gedanken- und Bildgut, das erst noch aufschlussreich und bedeutend ist, was er aber nicht ausdrücken kann, weil Siegolf sich mit Äusserungen generell zurückhält. So mancher weitsichtige Gutmensch hat dies bemerkt und Siegolf gebeten seine Tore einen Spalt aufzusperren, um der Welt zu zeigen, was er Wunderschönes an Eindrücken in sich fortwährend produziert. Doch öffnet sich Siegolf, drängt zunächst bloss ein knorriges „Ähm“ oder nur ein einfältiger Bruchteil davon heraus, was den Reichtum in Siegolfs Kopf nicht mal ansatzweise erahnen lässt, denn das „Ähm“ hält die Spitzenposition in Siegolfs Wortschatz. Mit der Zeit drückt Siegolf mehr Vokabular heraus, doch kommt dieses Wenige nicht von alleine, sondern muss durch fremdes Zureden geschehen. Siegolf muss alles sehr qualvoll aus sich herauspressen und was er herauspresst, klingt kläglich, beinahe bedauernswert. Siegolf bricht seine Sätze einen nach dem anderen ab, redet unlogisch und ausschnitthaft, und er lässt dies den Zuhörenden wissen. Darüber vermischt Siegolf Wahrnehmungen, wechselt permanent die Perspektiven, zweifelt das Gesagte immer wieder an. Bei Siegolf dauert alles lange, was zum Zuhören nochmals strapaziös ist. Wenn man Siegolf bittet einmal durchzuatmen und einfach nochmals von vorne anzufangen, wird er dieser Bitte sehr genau Folge leisten: Er wird wie empfohlen durchatmen und dann jedes Wort, jedes Ächzen, jeden Leerschluck und jedes einzelne Gehüstel exakt an derselben Stelle anbringen wie zuvor. Wenn auch Siegolfs Merkfähigkeit bemerkenswert ist, selbst der stärkste Geduldsfaden risse beim Zuhören von Siegolfs nie endenden „Ähms und Ohms“. Sogar in geduldigem Zuhören geübte Therapeuten würden an Siegolf scheitern. Siegolf ist somit auf Mitmenschen angewiesen, die ihm die Hälfte seines Ausdrucks abnehmen und seine angefangenen Sätze zu Ende bringen. Die Wenigsten sind dieser Aufgabe gewachsen. Siegolfs ungeschicktes Worte-Ringen ist so anstrengend, dass sich, – medizinisch gesehen bis dato unerklärlich – an hierfür prädestinierten Beinen schon mal Krampfadern bilden können. Würden Siegolfs Gedanken ungehemmt aus ihm herausquellen, müsste man neidlos einen systematisch denkenden Analysten anerkennen, der eigentlich die Sache auf den Punkt zu bringen vermag, aber verhängnisvollerweise in so vielen Strängen sprechen würde, dass man nur via schriftlicher Protokollführung durch mehrere Sekretärinnen eine Übersicht gewänne. Siegolf ist keineswegs jemand, dem man Eloquenz nachsagt, doch an und für sich ein lieber Mensch, der weniger kontaktscheu ist als man es ihm ansieht, und es wäre unangebracht und unrichtig, Siegolf auf den Psychomarkt zur Heilung zu schicken. Ausserdem ist der Mann in seinem Kopf bestens strukturiert und verarbeitet Daten, trotz seiner nahezu unrettbar romantischen Veranlagung, methodisch und akribisch genau sowie überaus ursächlich.

„Jede Impression ohne Expression bedeutet Depression.“ (Unbekannt)

 

 

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Besonderlinge, Galerie der Existenzen I, von Joanna Lisiak, Wolfbach Die Reihe 2012

Joanna Lisiaks „Besonderlinge“ sind, wie der Titel schon andeutet, bemerkenswerte Figuren mit besonderen Eigenschaften: Sie wünschen sich Spielplätze für Erwachsene, sammeln Senfgläser oder führen Statistiken über Brillenträger. So schräg die einzelnen Charaktere in der Landschaft stehen, so liebenswürdig sind sie auch. Und spätestens auf den zweiten Blick erkennt man, dass diese raffiniert porträtierten „Besonderlinge“, die Joanna Lisiak in ihre „Galerie der Existenzen“ aufgenommen hat, gar nicht so fremd, gar nicht so anders sind.

Weiterführend →

Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.