Apologie des konservativen Museums

Eine Antwort auf Orhan Pamuks „bescheidenes Museumsmanifest“

Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk unter dem Titel „Ein bescheidenes Museumsmanifest“ elf Thesen bzw. „Gedanken“ über die Zukunft der Institution Museum.

Pamuk fordert in seinem Manifest eine neue Herangehensweise an die Museumsaufgaben des Sammelns und Bewahrens – vom Großen hin zum Kleinen und vom Staatlichen hin zum Individuellen. Traditionelle Museen wie den Prado oder den Louvre kritisiert er dabei als nicht mehr zeitgemäß und antimodern; ihre eigene Geschichte (sowohl was die Sammlungen selbst angeht als auch in der Regel die Gebäude, in denen sie untergebracht sind) sei zu sehr verzahnt mit der Geschichte eines bestimmten Landes, das zu repräsentieren ihre vorderste Aufgabe sei.

Pamuk sieht, um einer globalisierten, immer weniger von der Vormachtstellung der westlichen Kultur dominierten und gleichzeitig sich hochgradig individuell ausdifferenzierenden Welt und vor allem dem Leben in ihr museologisch gerecht zu werden, die Notwendigkeit, zukünftige Museen weniger abstrakt und monumental zu gestalten. Sie sollten kleiner sein, spezieller und sich dem alltäglichen, persönlichen Leben der Menschen widmen. Anhand von Einzelbeispielen lasse sich besser, anschaulicher und tiefgehender das Leben in einem bestimmten Staat, zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten Umständen dokumentieren als durch offizielle, abstrakte Präsentation. Laut Pamuk ist auch das Leben des Individuums an sich bzw. dessen Zeugnisse und Spuren bewahrens- und sammelnswert. Ein jeder selbst solle gar dazu angehalten werden, sein Leben zu „musealisieren“.

So schön und und ideell wertvoll viele von Pamuks Gedanken zu diesem Thema sind, kann ich doch seine Ansicht nicht teilen. Weder ist es nötig, die bestehenden Museen und den Umgang mit ihnen oder unsere Ideen und Ansichten vom Bewahren und Sammeln, vom Bewahrens- und Sammelnswerten zu reformieren, noch wird es in Zukunft die von Pamuk gezeichneten starken Individualisierungtendenzen in diesem Bereich geben.

Die Gründe sind dabei sowohl praktischer als auch theoretischer Natur:

Das Museum als konservative Institution im konventionellen Sinne hat Sinn gemacht und macht auch in Zukunft Sinn. Pamuks Hinweis auf die Wichtigkeit des Einzelnen entspricht durchaus gerade dem Zeitgeist, doch droht hierbei das große Ganze aus dem Blick zu geraten. Es wird in der Tat zusehends schwieriger, die Welt zu ordnen und zu strukturieren, doch das heißt nicht, dass dies in Zukunft nicht mehr möglich sein wird. Das Suchen und Finden von Kategorien und abstrakten Zusammenhängen, um die Welt zu verstehen, ist und war immer – von Aristoteles‘ Kategorienschrift bis zu Borges‘ Enzyklopädien und Listen – ein zutiefst menschliches Vorgehen, eine Voraussetzung für das Denken überhaupt. Museen geben wichtige Hilfestellungen, um sich in der Welt zurechtzufinden und helfen durch ihre Auswahl und Veranschaulichung dabei, sich das Große, Unübersichtliche verständlicher zu machen und anzueignen. Sie lehren Selbst-Bewusstsein und Bescheidenheit: Der Einzelne sieht sich als Teil eines (biologischen, sozialen, kulturellen) Ganzen und Glied einer Kette von historischen Entwicklungen.

Orhan Pamuk übersieht, wie wichtig der Selektionsgedanke für ein Museum ist. Nicht alles, was auf der Welt passiert, ist berichtenswert; nicht alles, was produziert wird, ist Kunst oder zumindest von dokumentarischem Interesse für die Nachwelt.

Pamuk vergleicht die herkömmlichen, institutionellen Museen mit Epen; die Museen, die er sich für die Zukunft vorstellt, ähneln in seiner Sicht eher Romanen. Doch auch in einen Roman fließt nicht jede Alltagssituation ein, selbst dort wird das Leben der Menschen stilisiert dargestellt. Ein ganzes Leben zu musealisieren hieße, eine journalistische Reportage oder Reality Show zu einem Roman aufzuwerten. Nicht nur das Epos, sondern auch der Roman lebt, wenn auch in schwächerem Maße, von Typen, von Abstrahierung und Sublimierung. Literatur muss absehen vom Persönlichen und sich mit den großen Fragen der Menschheit beschäftigen, forderte Dürrenmatt. Und so muss Kunst abstrahieren, sie ist in ihrem Gegenstand nicht wahllos und in ihrer Rezeptionswirkung nicht ausschließlich persönlich.

Wahllos darf auch nicht der Umgang mit Kunst oder historischen Zeugnissen sein: Ein Museum ist eben kein Archiv. Kunst als Kunst zu erkennen und im besten Falle große Kunst von mediokrer zu unterscheiden, ist eine wichtige geistige Fähigkeit. Der Diskurs über das Bewahrenswerte ist auch darum unerlässlich, weil er die Auseinandersetzung mit Kunst überhaupt voraussetzt und so unsere Gesellschaft dazu zwingt, sich zu reflektieren.

Die Selektion hat darüber hinaus praktische Vorteile: Nicht alles, was gelebt oder hinterlassen wird, kann aufgezeichnet oder aufgehoben werden – die Welt würde im Chaos versinken, die Archive kämen mit dem Dokumentieren und Einlagern nicht mehr hinterher. Warum nicht das nach fachkundiger Übereinkunft als das Wichtigste, Lohnenswerteste Erachtete aufheben? Selektion fördert den Wettbewerb und stachelt zu Höchstleistungen an.

Wie viele Meisterwerke verdanken wir dem Wettbewerb um Förderung, um Ausstellung, um Realisierung überhaupt? Wenn klar ist, dass nur eine Kirche errichtet werden kann, muss der Entwurf so gut wie nur möglich sein, damit er sich gegen die Ideen der Mitstreiter durchsetzen kann. Die Menschheit hat sich seit jeher in Auseinandersetzung und Konkurrenz mit anderen weiterentwickelt; große Geister haben sich immer mit- und aneinander gemessen und dabei epochemachende Kunst hervorgebracht.

Und genau hier setzt der Denkfehler Pamuks an: Die Institution Museum selektiert nicht, was besonders typisch oder repräsentativ für einen Staat oder eine Epoche ist. Sie versucht, das zu filtern, was das Typische erst hervorgebracht hat. Die Werke, die Einfluss nehmen darauf, dass die Welt so aussieht, wie sie aussieht. Die nicht illustrieren, sondern bewegten und noch heute bewegen.

Ein Frevel wäre es und wider unsere Geschichte, die ja selbst uns hervorgebracht und unseren bisherigen Zustand geprägt hat, diese Leistungen zu verkennen und sie zu relativieren, indem man sie gleichsetzt mit dem, was sie geschaffen und beeinflusst haben.

Ein Museum ist nicht dafür da, das Alltägliche, Banale zu zeigen, sondern das Extraordinäre, im wahrsten Sinne Welt-bewegende. Und nur wenn wir uns das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Museumskonzepts erhalten, bewahren wir auch unsere Identität, eben indem wir unsere geistige und geschichtliche Herkunft respektieren und schätzen. Nur so ist Inspiration, weiterhin Großes zu schaffen, möglich und kann an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.

Pamuk kritisiert neben dem grundsätzlichen Konzept herkömmlicher Museen auch dessen Umsetzung.

Die meisten Menschen würden wohl seinen Worten zustimmen, dass, abgesehen von ikonischen Touristenattraktionen, vor allem große, altetablierte Museen ein Imageproblem haben, ihnen kalt, antiquiert, unzugänglich, gar als weltabgewandte Elfenbeintürme erscheinen.

Doch das Problem liegt hier nicht in der Sache an sich, sondern in dem Umgang mit ihr: Kunst muss erstens adäquat vermittelt werden. Es genügt nicht, Bilder auszuhängen, sondern man muss auch auf irgendeine Art und Weise erläutern, warum gerade diese. Impulse zur Rezeption und Hinterfragung sind nötig.

Zweitens muss auch der Betrachter ein gewisses Maß an Bereitschaft mitbringen, sich auf die Museumssituation und die ausgestellten Werke einzulassen. Kunst fordert, sie verlangt dem Betrachter eine geistige Leistung ab und zwingt ihn zur Selbstreflexion. Würde sie das nicht tun, wäre sie Unterhaltung.

An diesen beiden genannten Punkten setzen auch heutzutage schon viele gute Museums- und Bildungsprogramme an. Aus Unbequemlichkeit und angeblicher Unvereinbarkeit mit dem modernen, schnellen, individualisierten Dasein das (im wörtlichen Sinne) konservative Museum als überzeitliche Institution, als monumentalen Versuch, das Leben, das Universum und alles zu ordnen, als Hort genau des Idealen und Revolutionären, das Kunst und bedeuten kann, abzulehnen, zeugt meines Erachtens nach von einem falschen und allzu vereinfachenden Kulturverständnis.

Analog zu Pamuks Zusammenfassung setze ich seinen Forderungen bzw. Vorstellungen daher folgendes bleibende Museumskonzept entgegen:

Individualität                                                      Abstraktion

pittoresk                                                                monumental

alltäglich                                                                überzeitlich

Menschengeschichten                                     Weltgeschichte

Anekdotisches                                                     Beispielhaftes

Reales                                                                      Ideales

das Einende im Mannigfaltigen                     das Mannigfaltige im Einen

 

 

 

Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers.