Fehlversuche

WARUM nicht mit dem Ort beginnen? So, als gäbe es eine Einheit des Ortes in dieser Geschichte wie in anderen Geschichten, aber wenn die Seele, wie es heißt, Prügel bezogen hat, weiß man nicht, wo oben ist, wo unten, es ist wie in einem Traum, es ist wie nach einem Erdbeben, und doch muss diese Geschichte wie alle Geschichten an einem Ort beginnen, und so beginnt sie in einem Geburtszimmer, ganz einfach.

Es war einmal ein Kind, das wie die meisten Kinder außerhalb eines Märchens geboren wurde in einer Zeit, in der das Wünschen helfen sollte, aber nicht konnte, wenige Monate vor dem Bau der Berliner Mauer nämlich, aber Berlin liegt fern und Politik interessiert das Kind nicht, das Kind erlebt die ersten Augenblicke seines Lebens im Geburtszimmer einer Ruhrgebietsklinik, grau sind die Häuser der Reviermetropole, grau ist der Feinstaubhimmel über ihnen, die Mutter des Kindes empfindet das Wetter als persönliche Beleidigung, Grau ist hier keine Farbe, sondern ein Zustand, Krupp ist allgegenwärtig, sogar in der Heilkunde, die eine Krankheit nach ihm benannt hat, an der viele Säuglinge und Kleinstkinder sterben, aber nicht dieses Kind, denn sonst wäre seine Geschichte schon zu Ende, die doch gerade erst ihren Anfang nimmt.

 

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aus: Fehlversuche – Kein Kinderbuch von Elke Heinemann. edition taberna kritika, 2018

Marillenlikör, Eierlikör und vor allem zu viel Jägermeister trinkt die Mutter der sechsjährigen Elisa Mitte der 1960er Jahre Nacht für Nacht, bevor sie zu einer lautstarken Maria-Callas-Imitation anhebt, während der Vater auf einer scheinbar endlosen Dienstreise das familiäre Drama ignoriert. Das Kind erfindet für sich die Zwillingsschwester Alise und beginnt, in der dritten Person Singular seine „wahre Geschichte“ zu schreiben, die es in der Ich-Form beenden kann, als es kein Kind mehr ist. Sarkasmus und Ironie, sprachliche Verdichtungen und metaphorische Verschiebungen zeichnen die Prosa von „Fehlversuche“ aus: Ein Buch über ein Kind, das explizit kein Kinderbuch ist.