Revolutionsheikus

 

Die aus dem Zeitraum von 2009 bis 2016 stammenden Gedichte des ukrainischen Lyrikers und Publizisten zeichnen sich durch Gedankengänge aus, die ungeachtet ihrer vielschichtigen Visionen keine Lösungen anbieten. Vielmehr verlieren die Figuren bei der Suche nach irgendwelchen sinnträchtigen Zielen ihre Orientierung, überlassen sie oft der Natur in der Gestalt von vertrauten Haustieren oder sanften, einst wilden Tieren. Fast in jedem lyrischen Text aus den Jahren 2012 bis 2016 tauchen Pferde, Hunde, Möwen, Wölfe, Mäuse, Amseln, Wespen, Füchse, Nachtvögel auf. Es sind „viele Tiere, die uns beschützen“, wie das lyrische Ich, gleichsam Schutz vor unsichtbaren und realen Gefahren suchend, es bekennt. Auch die geschichtlichen Dimensionen verlieren sich beim Versuch, die Erinnerung an Kindheit zu beleben. „Ich bin ein bisschen verroht auf diesem endlosen Weg“, so beklagt sich das konturenlose Ich. Selbst die alttestamentlichen Visionen verblassen angesichts der trostlosen Gegenwart. Auch die Liebe „verspricht nichts, rechtfertigt nichts, / erzwingt nichts, bezeugt nichts.“

Je länger der Leser auf der Suche nach den verschwundenen, glücksverheißenden Visionen auf das verblassende Gemälde der Welt schaut, auf dem sich Vergangenheit und Zukunft auflösen, desto vager zeichnen sich die Konturen einer Gegenwart ab, die von der Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und von Krieg geprägt sind. Darauf verweist auch die Übersetzerin Claudia Dathe in ihren abschließenden Notizen „Lichtritzen“ zu Leben und Werk von Ostap Slyvynsky. Die komplizierte gesellschaftliche Situation in der Ukraine zwischen der Maidan-Revolution 2014 und dem folgenden Krieg in der Ostukraine, das aufopferungsreiche Ringen um Demokratisierung, die wachsende Resignation der Bevölkerung – alle diese Faktoren lasteten auf diesem nach 1991 entstandenen Staat, der zwischen der EU und dem Expansionswillen des russischen Nachbarn um seine Existenz kämpft. Und in dem Lyriker und Bürgerrechtler Ostap Slyvynsky einen engagierten Unterstützer findet. In seinem letzten Gedicht, das den Titel „Lauffeuer“ trägt, bringt er es in einer mit Metaphern aufgeladenen Situationsbeschreibung unmissverständlich zum Ausdruck: „Das Feuer in dem verkohlten Käfig ist erloschen. Sein letzter Atemzug war gegen vier Uhr morgens, wenn die / Lebenden kaum an jene denken.“

Noch markanter und verkürzter geben die „Revolutionsheikus“ (man beachte die ukrainisch-deutsche Schreibweise, obwohl die korrekte Übertragung aus dem Japanischen immer noch Haikus lautet), entstanden zwischen Dezember 2013 und Anfang Januar 2014, die revolutionäre Stimmung auf dem Kiewer Maidan im Winter 2014 wieder. “Wenn uns bloß keiner / aus unserem Leib aussiedelt /wir bleiben standhaft.“ Das ist auf den Punkt gebrachte Revolutionslyrik, die möglicherweise in Westeuropa in den nächsten Jahren wieder entstehen wird. Der ironische Titel des Gedichtbandes allerdings verweist auf den Wunsch, erst in 5000 Jahren wieder zu erwachen. Wenn eine demokratische Praxis wieder zum Leben erweckt worden ist? Ostap Slyvynsky warnt in seinen manchmal sehr verklausulierten Verszeilen vor einer solchen düsteren Entwicklung, die nur gesamteuropäisch zu stoppen ist. Höchste Zeit also, der düsteren Stimmung in der ältesten literarischen Gattung wieder einen kämpferisch-revolutionären Pathos zu verleihen!

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Im fünften Jahrtausend erwachen. Gedichte aus den Jahren 2008 bis 2016 von Ostap Slyvynsky. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin (foto TAPETA) 2017

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.