Chronik einer Berliner Familie

 

Der 1954 im Darmstädter Schneekluth Verlag erschienene Roman gehört neben Theodor Plieviers „Berlin“ (1954) und Heinz Reins „Finale Berlin“ (1948) zu den von der akademischen Literaturgeschichte anerkannten Werken, die die Besetzung der Reichshauptstadt durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 aus jeweils eigenständiger Perspektive dargestellt haben. Borées Chronik einer Berliner Familie, die den Einmarsch der russischen Truppen in den späten Apriltagen des Jahres 1945 erlebt, zeichnet sich bei diesem Vergleich durch eine besondere Perspektive aus. Der Ich-Erzähler, der Bankangestellte Stein, vom Kriegsdienst befreit, erlebt im Umfeld seiner Familie eine Atmosphäre, die von ständigen Bombenangriffen, einer sich rapide verschlechternden Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und der wachsenden Angst vor der Besetzung Berlins durch russische Soldaten geprägt ist. Diese drei großen atemberaubenden Einflussfaktoren wirken auf ihn ein, mit ihnen geht er gleichsam souverän um, so als ob es nicht um das Überleben handelt, sondern um die Handhabung schwieriger Transaktionen.

„Wir fürchteten das Ende der Kämpfe; es war damit zu rechnen, daß hier in den Vororten gekämpft werden würde. Wir fürchteten die Russen, aber von den Nachrichten der amtlichen Greuelpropaganda glaubten wir nur die Hälfte. Sie würden uns nicht alle ohne Unterschied erschießen, und eine große Zahl ist ein guter Schutz. […] Was ich am meisten fürchtete – Vertreibung aus dem behaglichen Heim, Einquartierung von SS, Einberufung zum Volkssturm, Kämpfe – , dem entgingen wir durch die Flucht nicht.“ (S. 51)

Was in diesen Stunden und Tagen der Ungewissheit der Ich-Erzähler, umgeben von Frau und Tochter (die zweite Tochter lebte in Graz und der Sohn war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft) wie auch Flippa, der Hausverwalterin, für Überlegungen anstellt, um aus dem Kessel Berlin herauszukommen, das erweist sich als abgewogen und nüchtern. So teilt er die Sorgen „seiner“ Frauen vor der Rachsucht der Russen, den Vergewaltigungsängsten. Er ist nach den Bombennächten einer der ersten, der beim Wegschaffen von Schutt und Asche dabei ist, reißt Witze über die Überlebenspropaganda der Nazis, bereitet sich auf den Einmarsch der russischen Truppen vor, hört den Gesprächen der dem Bombenterror gerade Entkommenden zu. Er kommentiert das Verhalten der Russen in der Öffentlichkeit, amüsiert sich über die Verspieltheit der Soldaten, beschreibt die Physiognomien der Offiziere (brutal, feist), lernt das Feilschen um Brot, bewertet das Lebensgefühl seiner deutschen Landsleute, als sie vom nahenden Kriegsende hören, und er stellt Überlegungen über die Zukunft an („Ich war erfüllt von heimlicher und unheimlicher Sehnsucht“) Und der Wiederaufbau der zerbombten Innenstadt von Berlin? Und die Zuteilung von Lebensmitteln? Was in diesen Passagen auffällt, ist die distanzierte Beschreibung seiner deutschen Landsleute, die aufgrund ihrer ausgeklügelten Organisationsfähigkeit sehr schnell mit der Nachkriegssituation zu Recht gekommen wären. Und die Bewältigung von Mit-Schuld im Hinblick auf die Unterstützung des verbrecherischen Nazi-Regimes? Dessen aktive Mitläufer und Funktionsträger tauchen mit Unschuldsminen bald wieder auf, auch auf die Gefahr hin, von Antifa-Leute und den Militärbehörden geschnappt zu werden, die sich auf die Suche nach Nazi-Anhängern machen. Unterdessen geht auch die administrative Neuaufteilung von Berlin unter die Siegermächte voran. In Föhren bzw. Frohnau am nördlichen Rand von Berlin, dem Wohnort des Protagonisten, bilden nun die Franzosen die Besatzungsmacht.

Das sehr informative Nachwort aus der Feder von Axel von Ernst würdigt den schriftstellerischen Werdegang des Autors, der erst 1930 als Vierundvierzigjähriger sein literarisches Debüt mit Dor und der September feierte. Die nationalsozialistische Terrorherrschaft überlebt er trotz des Publikationsverbots seines Antikriegsromans Quartier an der Mosel mit weiteren literarischen Veröffentlichungen. Es gelingt ihm sogar 1941 im Piper Verlag seinen Roman Diesseits von Gott zu publizieren, das nach von Ernst „Borées Bekenntnis und Aufruf zu Vernunft und Menschlichkeit jenseits widersprüchlicher Glaubensinhalte, unpathetisch heruntergebrochen auf eine schlichte, natürliche Humanität …“ artikulierte. Dieser Haltung bleibt er auch nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes treu. Seine 1948 abgeschlossene Roman-Chronik über eine Berliner Familie, leider erst 1954 veröffentlicht, hat ihre literarische und historische Bedeutung auch mehr als nach sechzig Jahren nicht verloren. Für die Wiederentdeckung eines Ausnahmeautors verdient auch der Lilienfeld Verlag hohe Anerkennung.

 

 

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Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie, Roman von Karl Friedrich Borée. Mit einer Nachbemerkung zum Autor. Düsseldorf (Lilienfeld Verlag) 2017