SäureFraß

Entgegen der digitalisierten on-demand Lese- und Informationswelt ist Säurefraß ein natürlich sichtbarer Zerfallsprozess an Büchern und Printerzeugnissen. Ein Prozess, den man immer wieder aufhalten konnte  und uns den Zugang zu unserer Geschichte öffnet. Heute gibt man seine  oder fremde Leseerzeugnisse im besten Fall auf eine externe Festplatte oder schiebt sie in die ‚cloud‘.

Content is king

Ich tue dem Buch unrecht, wenn ich mit dem SäureFraß beginne, denn eigentlich  geht es um digitales Lesen. Oder um wieder Lesenlernen. Und eigentlich dem  geistigen Säurefraß am Buch. Aus digitalem Lesen hat sich ein vermeintlich ’neues Lesen‘ entwickelt. Wir haben uns eine Viel-Lese-UnKultur angewöhnt, die auf dem Einscannen von Content beruht. Informationsaufnahme ohne Unterscheidung, endloses Konsumieren in Take-away-Bechern, die achtlos irgendwohin geworfen werden. Typischer  Ausdruck  der attraktiv-flexibel-80-Stunden Beschäftigten. Am Schönsten immer dann, wenn unsere Aufmerksamkeit eigentlich dort gefordert ist, wo wir viel Zeit verbringen und dafür bezahlt werden. Im Meeting unterm Tisch oder ganz offen auf dem Laptop, in der U-Bahn, während man beim Essen sitzt. Ein Kellner brachte es einmal auf den Punkt, als er auf einem Tisch voller Laptops servieren wollte und lakonisch fragte, ob er die Getränke per E-Mail schicken solle … Zu Hause geht es weiter. Paare sitzen einander zwar gegenüber, müssen aber  schnell  E-Mails checken, aus dem ›schnell‹ werden noch schneller Stunden.

Ist Ihnen aufgefallen was nach einem Flug passiert?

Jeder zückt wie auf Kommando nach dem Entschließen der Gurte sein Smart-Phone. Es könnte ja etwas Relevantes passiert sein. Es werden alle Push-ups oder auf dem Laptop 15 Tabs geöffnet. Da eigentlich nichts wirklich Sensationelles passiert ist, wird weiter gesucht. Eine Heimatlosigkeit ersetzt die andere. Des Weiteren bleiben eigentlich nicht mehr als Headlines im Kopf, die Kernaussage bleibt verschlossen. Diese Art des Lesens lässt das gute alte Buch als nicht mehr leserlich, zugänglich, antiquiert und bestenfalls das Designer-Regal gut aussehen. Das E-Book ist die logische Fortsetzung, und ich war anfangs begeistert. Mein Enthusiasmus beschränkt sich nur noch auf die schnelle Verfügbarkeit eher unwichtigeren Contents. Mittlerweile ein paar hundert Bücher reicher damit, stelle ich fest, dass ich mich mehr über fehlende Umbrüche, noch mehr grammatikalische Fehler und generell über fehlende Eselsohren, wie ich sie nun halt so pflege und die in zehn Jahren an Emotionen, Unterbrechungen erinnern werden, ziemlich ärgere.

Wie kann man Tolstoi, Kafka, Shakespeare jemals so lesen oder den Zugang reflektiert dazu finden?

Da helfen auch Anmerkungen und ein Wikipedia-Zugang nichts. Sie werden kostenlos auf dem Kindle angeboten und finden sich neben 99-Cent-Schund all jener Sprach- und Wortverräter, die sich als zukünftige Bestseller und Weltverbesserer sehen. Wer kann sich daran erinnern, was ihm in der Jugend erste Bücher waren?

Ein Hinausträumen in die Fantasie, Lesen unter der Bettdecke, Kopfkino mit seinen Spannungen, die man in der Realität abzugleichen suchte. Im Gegensatz zu all dem Scannen hat man sich etwas angeeignet oder kognitiv gelernt und ein Erinnerungsvermögen aufgebaut. Da man heute alles in irgendwelche Himmel verschiebt, meint man darauf genauso schnell zurückgreifen zu können, wie man News sucht, nicht zu versäumen. Das Suchen nach diffusen Inhalten dauert mittlerweile länger, als ein Buch aus dem Regal zu holen. Aber nicht nur E-Books unterliegen der schlampigen Respektlosigkeit dem Leser gegenüber, auch der Web-und-app-Content seriöser Nachrichtenjournale, die sich im Print solches noch nicht herausnehmen. Es werden Texte abgesetzt, die man bestenfalls Volontären zutraut und ihnen damit unrecht tut. Im Hinblick auf die zu erwartende Nano-Halbwertszeit kann man sich eine Schlussredaktion sparen.

Smells like writers spirit

Mir ist Säurefraß am Buch lieber, weil ich noch einen Buchbinder kenne, der mit Liebe zum Buch und mit Fachkenntnis teils über Monate Bücher restauriert. Im übrigen bindet er auch Journale und andere Printerzeugnisse in handelbare Nachschlagewerke.