Assoziationen zur Frage: Ist das Kunst?

Vorbemerkung der Redaktion: Über Kunst wird viel geschrieben. In den Feuilletons, in Fachzeitschriften, kunsthistorischen Seminaren, kulturpolitischen Ausschüssen oder in Kommissionen zum Thema ‚Kunst als Wirtschaftsfaktor‘. Aber wann wird einmal ganz grundsätzlich über Kunst nachgedacht, darüber, ob wir, wenn wir über Kunst reden, angemessen über Kunst reden? – Wir streiten zwar wie die Kesselflicker über Kunst, jeder hat seine ganz eigene Ansicht zu ihr. Aber alle Diskursteilnehmer verhalten sich dabei so, als gäbe es eine Art geheimen, unausgesprochenen Konsens, eine interkulturelle, überzeitliche Schnittmenge, die sicherstellt, dass dabei alle über das Gleiche reden. Stefan Oehm hat da so seine Zweifel. Ob wir angemessen über das reden, was alle Welt ‚Kunst‘ nennt. Ob das, worüber alle Welt redet, überhaupt etwas mit Kunst zu tun hat. Ob das, worüber alle Welt redet, von denen, die darüber reden, überhaupt expliziert werden kann. Ob alle, die über Kunst reden, wissen worüber sie reden. Ob alle, die miteinander über Kunst reden, auch über das Gleiche reden. Oder ob nicht vielleicht manche meinen, sie reden, wenn sie über Kunst, über etwas, wo sie doch eigentlich über nichts reden, aber keiner sich traut, das ihnen mal öffentlich zu sagen, weil man Angst hat, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Um es vorweg zu sagen: Auch KUNO weiß nicht, worüber wir reden, wenn wir über Kunst reden. Stefan Oehm weiß nur, dass ein großer Teil derer, die über Kunst reden, einige grundlegende Erkenntnisse außer acht lässt. Und über genau die möchte er in einer Reihe von Essays reden:

1. Man möchte meinen, dies sei eine Frage des Geschmacks. Aber weit gefehlt: Es ist schlicht eine unsinnige Frage.

Die eigentliche Frage hinter der Frage, ob ein Werk Kunst ist, lautet: Was ist Kunst? Denn nur wenn diese Frage hinreichend beantwortet werden kann, wäre eine Zuschreibung eines einzelnen Werkes als ‚Kunst’ überhaupt denkbar. Die Bedingung der Möglichkeit der Beantwortbarkeit dieser Frage ist jedoch die Annahme der wie auch immer gearteten Existenz einer abstrakten Idee: dem Wesen einer Sache.

Dieses Wesen ist ein sehr praktikables, jedoch rein gedankliches Konstrukt, bei dem wir gewisse allgemeinverbindliche Merkmale imaginieren, um etwas als etwas benennen zu können. In unserem Falle: als ‚Kunst’. Versucht man nun aber ihr Wesen zu benennen, an dem ein Werk in irgendeiner Form teilhat und es, so geadelt, als ‚Kunst’ bezeichnet werden kann, dann wird es diffus.

Dass dem so ist, liegt nicht an der Kunst. Das Problem ist prinzipieller Natur. Denn schon der vermeintlich einfachere Versuch, das Wesen eines Stuhls zu beschreiben, ist zum Scheitern verurteilt: Welche Eigenschaften kennzeichnen einen Stuhl unzweifelhaft, eineindeutig, für alle Ewigkeit, in allen sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten als ‚Stuhl’? Mir ist nicht eine bekannt.

Aber selbst wenn diese Frage wider Erwarten beantwortet werden könnte – bereits die Art der Fragestellung, das wissen wir seit Ludwig Wittgenstein, ist grundsätzlich unangemessen: Die Frage „Was ist Kunst? hypostasiert unterschwellig. So kann man nur nach einem Gegenstand fragen, der zumindest potentiell über ein real existierendes Referenzobjekt verfügt – also zum Beispiel der Stuhl, auf dem ich gerade sitze – nicht aber nach einer gedanklichen Abstraktion, einer Universalie, der keine physische Entität entspricht. Wie es eben bei der ‚Kunst’ der Fall ist. Angemessener wäre da eher die Frage:

Was verstehen wir unter ‚Kunst’?

Darauf gibt es nun aber keine allgemeinverbindliche, für alle Zeit gültige Antwort. Es gibt nicht einmal eine für den gegebenen Moment eineindeutige Bedeutung des Wortes, also eine verbindliche Gebrauchsweise dieses Wortes in einem bestimmten Sprachspiel innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Dessen ungeachtet gehen aber alle Beteiligten stillschweigend von einer ausreichenden Schnittmenge der Gebrauchsweisen, sprich: Bedeutungen, und damit auch analog von einem entsprechend gemeinsamen Grundverständnis aus. So auch bei dem Wort ‚Kunst’.

Jede Epoche hat ein anderes Verständnis von ‚Kunst’. Ebenso jede Kultur und Gesellschaft. Wie im Zweifelsfalle auch jede ihrer sozialen Gruppen. Oder womöglich jeder Angehöriger einer solchen Gruppe. Denn jeder ist etwas anders sozialisiert, war etwas anderen Einflüssen ausgesetzt. Bei denen individuell andere familiäre, geschlechtliche, ethnische, ethische, religiöse, psychologische Aspekte in je individueller Ausprägung eine Rolle spielen. Darüber hinaus gehört womöglich jeder zur gleichen Zeit verschiedenen Gruppen an, in denen wiederum verschiedene Einstellungen vorherrschen. Die aber nicht zwingend konstant bleiben müssen – was heute gilt, kann in ihnen morgen schon wieder ganz anders aufgefasst werden.

Die Frage „Was verstehen wir unter ‚Kunst’?“ könnte also bestenfalls auf eine im Max Weber’schen Sinne idealtypische Begriffsdefinition hinauslaufen, bei der wir immer im Hinterkopf behalten müssen, dass sie nie einen ‚Ist’-Zustand, sondern immer nur einen hypothetischen Zustand beschreibt.

2.

Individuelle Handlungen können wertneutral sein. Aber auch sehr tugendhaft. Oder moralisch verwerflich. Sie können Folgen haben, die von den Handelnden beabsichtigt sind. Andere wiederum sind unbeabsichtigt und nicht vorhersehbar. Manche sind vielleicht vorsehbar, aber dennoch unbeabsichtigt. Tugendhafte Intentionen können furchtbare Konsequenzen, moralische verwerfliche hingegen fruchtbare Auswirkungen haben. Ein Phänomen, das als Mandevillesches Paradox bekannt ist; Robert K. Merton hat es weiter ausgeführt und als ‚Gesetz der unbeabsichtigten Folgen‘ in der modernen Soziologie etabliert.

Kommt es nun zu einer Vielzahl ähnlicher individueller Handlungen, gleichwelcher Couleur, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit dramatisch, dass es zu von den jeweils Handelnden unbeabsichtigten Folgen kommt. Sprechakte sind solche individuelle Handlungen, die, täglich millionenfach ablaufend, „Phänomene der dritten Art“ zeitigen, wie sie der Sprachwissenschaftler Rudi Keller nennt: Sie sind die nicht-intendierte „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen.“

Der Sprachwandel ist, so Keller, ein solches Phänomen. Es wird „durch Handlungen der Individuen hervorgebracht (…), ohne von diesen intendiert zu sein“. Damit ist der Sprachwandel das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht aber das der Durchführung eines menschlichen Plans. Mithin also das kollektive Resultat individueller Handlungen.

Keller erläutert dieses Phänomen an einem überaus simplen Beispiel: Wie entsteht ein Trampelpfad? Jemand nimmt von einem Parkplatz aus nicht den Umweg über den Bürgersteig, sondern den direkten Weg über die Wiese hin zu seinem Ziel. Das tut er nur, weil er zu bequem ist, weil er keinen Umweg gehen und schnellstmöglich von A nach B kommen will. So denkt und handelt jeder Einzelne, der den direkten Weg nimmt. Das Resultat der Tausenden, die so denken und handeln, ist – ein Trampelpfad. Niemand hat ihn intendiert, aber alle haben ihn mit ihrer gleichartigen individuellen Intention, schnellstmöglich von A nach B zu kommen, geschaffen. So sieht’s dann aus: Zwar tragen alle einen Teil der Verantwortung, aber niemand ist für das Resultat verantwortlich. Wie immer bei solchen kollektiven Phänomenen der dritten Art.

Dieser Prozess der unsichtbaren Hand, wie ihn Keller in Anlehnung an Adam Smith nennt, hat das Zeug zu weit mehr als nur zu einer Theorie des Sprachwandels: Er hat das Zeug zur Blaupause für alle Phänomene, die kollektive Resultate individueller Handlungen sind – also für kulturelle Phänomene. Denkt man, zum Beispiel, Wittgensteins Diktum von der Bedeutung eines Wortes als sein Gebrauch in der Sprache konsequent weiter, so kann, darauf weist Keller hin, der Bedeutungswandel als kollektive Änderung der Gebrauchsregeln eines Wortes beschrieben werden.

Mehr noch: Der Bedeutungswandel lässt sich in seiner synchronen und diachronen Gesamtheit des tagtäglichen millionenfachen Vollzugs individueller Sprachhandlungen durchaus als kollektive Bedeutungskonstitution begreifen. Denn Wandel ist nur da möglich, wo es etwas zu wandeln gibt. Also Bedeutung. So gesehen sind Bedeutungswandel und Bedeutungskonstitution eins, vereint in einem steten Fluss, der keinen Anfang und, solange es Verwender der Sprache gibt, auch kein Ende kennt.

Bedeutung ist stets fluid, bereits im Moment ihrer Konstitution immer schon wieder im Wandel begriffen. Und das eben im millionenfachen Vollzug unter millionenfach anderen individuellen Bedingungen, Einflüssen und Voraussetzungen. Die Gebrauchsweisen sind somit in allen Verwendungen de facto immer etwas verschieden, es gibt nur einen stillschweigend vorausgesetzten, hypothetischen Bestandszustand einer Bedeutung.

So hypothetisch wie auch die Vorstellung von der Sprache als Korpus. Eine äußerst nützliche Hilfskonstruktion, die uns befähigt, den Gegenstand der Betrachtung systematisch zu erfassen. Aber dennoch ist es nur eine Hilfskonstruktion. Wie auch die Separierung in Grammatik, Syntax und Semantik. Wir trennen da, was nicht zu trennen ist. Sprache als Sprache existiert allein im Gebrauch, den wir von ihr machen. Sie ist nicht unabhängig davon und damit von uns zu denken – sie wird erst durch uns zu dem, was sie ist. Schlafen wir, ist sie nicht. Nirgends. Sie besitzt keinen eigenen Seinszustand, ist kein statisches Gebilde, sondern steter Fluss, millionenfacher Gebrauch, Akt, Handlung, ‚energeia’, wie es W. v. Humboldt nannte.

3.

Wir tragen gemeinsam Verantwortung für die Bedeutung, ohne als Einzelner dafür verantwortlich zu sein. Sie ist das Ergebnis intentionaler menschlicher Handlungen, nicht aber Resultat eines kollektiven menschlichen Plans: Ich will in der alltäglichen Sprechweise auf eine sprachökonomisch angemessene Weise kommunizieren. Deshalb unternehme ich in der Regel nicht den kommunikativ überflüssigen Versuch, geplant und intentional Bedeutung zu konstituieren. Darüber hinaus legt unsere kontinuierliche individuelle Teilhabe an diesem kollektiven Prozess der Bedeutungskonstitution auch die Konstitution des reziproken Phänomens nahe: das des gemeinsamen Verständnisses der am Sprachspiel Beteiligten, resultierend aus einer präsupponierten ausreichenden Schnittmenge der Gebrauchsweisen, sprich: Bedeutungen. Eine trügerische Hoffnung natürlich. Denn wo bestenfalls eine Schnittmenge, aber keine Übereinstimmung gegeben ist, da ist de facto das Missverständnis unser ständiger Begleiter in der Kommunikation: Es ist die Regel, nicht die Ausnahme.

Solange wir also nicht auf die verwegene Idee kommen, die Bedeutung eines Wortes wie ‚Kunst’ ein für alle mal per Diktum festlegen zu wollen, können wir auf keine lexikalisch eineindeutig definierte, unumstößliche und für alle verbindliche Bedeutung dieses Wortes rekurrieren. Wir beziehen uns lediglich auf den fluiden sprachlichen Normalfall und verwenden einen schwammigen, von uns in seiner Bedeutung, also seinem Gebrauch in der Sprache, kaum jemals zureichend reflektierten Begriff.

So sind wir gestrickt: Wir neigen dazu, selbst wesentliche Begriffe und ihre Bedeutung nicht groß in Frage zu stellen, sondern ihren Gebrauch lax zu perpetuieren. Wenn wir aber nicht die Bedeutungen reflektieren, also die verschiedenen aktualen Gebrauchsweisen der Worte, die eigenen wie die der anderen, so sind wir auch nur bedingt in der Lage, die Bedeutungsdifferenzen der Worte im Gebrauch der verschiedenen Verwender zu erkennen.

Exponentiell dramatischer erscheint dieses Problem, zieht man die diachrone Zeitachse in Betracht, in der sich der Bedeutungswandel eines Wortes wie ‚Kunst’ ereignet, der sich, analog des Sprachwandels, als ungeplantes und unbeabsichtigtes Resultat unserer millionenfachen kollektiven Sprachhandlungen ergibt. Angesichts dessen muss ernsthaft die Frage gestellt werden, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir über ‚Kunst’ sprechen – und was die jeweiligen Teilnehmer des Diskurses meinen, worüber gesprochen wird. (Nicht dass jetzt der eine oder andere zu früh zustimmend mit dem Kopf nickt: Ähnliches gilt auch für die Diskurse zum Thema ‚Markt’, ‚Staat’, ‚Gesellschaft’, ‚Kirche’ etc. pp.: Wir vergegenständlichen, was nicht gegenständlich ist. Reden so, als wäre die Sprache, der Markt, der Staat, die Gesellschaft oder die Kirche „ein Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften, ein Organismus, wie man im 19. Jahrhundert zu sagen pflegte“ (Keller).

4.

Im tagtäglichen millionenfachen Vollzug der individuellen Sprachhandlungen haben wir zwar die Absicht, uns mit anderen auszutauschen. Die Konstitution von Bedeutung ist dabei aber ein unbeabsichtigter, ungeplanter und unreflektierter Nebeneffekt der Kommunikation. Nur in Ausnahmefällen versuchen wir geplant und intentional Bedeutung zu konstituieren. Die wissenschaftlichen Begriffsdefinitionen stellen solche Ausnahmefälle dar. Oder auch die Inbesitznahme im politischen Diskurs, wie es derzeit im völkisch-nationalen, xenophobischen und populistischen Kontext geschieht.

Der Prozess der unsichtbaren Hand, in dem wir gemeinschaftlich als nicht-intendierte kausale Konsequenz unserer individuellen Sprachhandlungen die Gesamtheit der aktualen fluiden Bedeutungen der Worte konstituieren, stellt eine aktive und produktive Teilhabe des einzelnen Menschen an der Sprache, an ihrer Ausgestaltung und ihrem Wandel dar.

Im Gebrauch des Wortes ‚Kunst’  konkretisiert sich diese sprachliche Teilhabe auf exemplarische Weise. Verlasse ich die sprachliche Ebene und werde mit der Kunst nicht als Wort, sondern als Werk konfrontiert, so habe ich nicht mehr nur Teil am Gebrauch des Wortes ‚Kunst’, sondern Teil an der Kunst selber.

Es kommt damit zu einer Teilhabe höherer Ordnung. Teilhabe bedeutet hier aktive, intentionale und individuelle Auseinandersetzung mit dem Werk – Künstler_innen zwingen den Einzelnen durch ihre inspirierende Nötigung zur Meinungs-Bildung, zur spontanen, selbst verantworteten Stellungnahme. Die positiv ausfallen kann. Oder negativ. Oder entschieden unentschieden. Eine, die Ratlosigkeit dokumentiert. Sprachlosigkeit. Oder auch hymnische Begeisterung.
So gesehen stellt die aktive Teilhabe an der Kunst fast schon so etwas wie ein pädagogischer Auftrag, ganz im Geiste Humboldts, zur Ausbildung der individuellen Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft dar. Eine Ausbildung, die dem zunehmend als Belastung empfundenen Zwang zur Eigenverantwortung innerhalb einer fragil gewordenen Gesellschaft etwas von ihren Schrecken zu nehmen vermag: Ich erlerne sie hier spielerisch, abseits des lebensweltlichen Drucks.

Diese in der Teilhabe an der Kunst spielerisch erlernte Eigenverantwortung, eine Grundvoraussetzung für den Bestand einer stabilen, von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Demokratie, stellt die unbeabsichtigte Folge einer gänzlich anderen Intention dar: Sie zielt für gewöhnlich auf die Befriedigung unserer Neugier, Interessen, Vorlieben, auf Freude, Genuss, Zeitvertreib, Weiterbildung. In der Gesamtheit der Teilhabe aller mit künstlerischen Werken Konfrontierten legt nun wiederum die unsichtbare Hand heimlich Hand an. Und es kommt auch hier zu einer kausalen, nicht intendierten „Konsequenz der Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“:

In einem solch steten synchronen und diachronen Prozess der Inspiration und Rezeption konstituieren sich alle Beteiligten ihre gemeinsame Kultur und kulturellen Werte, ihre gemeinsame Geschichte und Identität, die darum nie konstant, sondern fluide, in ständiger Entwicklung, Erneuerung und Wandlung begriffen sind. Kultur, Werte, Geschichte und Identität stellen sich somit, wie Sprach- oder Bedeutungswandel, auch als von niemandem beabsichtigtes, ungeplantes, kollektives und kausales Resultat individueller Handlungen dar.

Je mehr Menschen an diesem Prozess von Inspiration und Rezeption teilhaben, je reflektierter und intensiver ihre Meinungs-Bildung ist, desto größer ist dessen identitätsstiftende Kraft – eine Kraft, die aus dem Volk kommt: demos kratos.

5.

Da, wo eine Bedeutung gesetzt ist, ist auch eine Sichtweise gesetzt. Sie wäre nicht mehr relativ, sondern absolut. Und wird, wie in einem idealtypischen wissenschaftlichen Kontext, im Konsens als verbindlich akzeptiert. Schlimmstenfalls wird jedoch ein solcher Gebrauch mit aller Macht von einer autoritären Instanz oktroyiert, zur Regel gemacht. In diesem Moment wird der Gebrauch ideologisch. Und da, wo die Sprache ideologisch wird, wird auch die Denkstruktur ideologisch. Die Herrschaft einer einzig gültigen Bedeutung beginnt. Die in den Händen derer liegt, die die Wahrheit für sich und ihre Weltsicht gepachtet haben. Sprache wird statisch, verliert ihre vitale Wandlungsfähigkeit. Alles hat aus einer Perspektive gesagt, gedacht, getan zu werden. Alternative Sichtweisen sind tabu, individuelle Variationen perdu.

Die eigene Wahrheit wird gegen alle Widerstände, Andersdenkende, Fremde verteidigt. Aggressiv bis aufs Blut von religiösen Eiferern, von autoritären und totalitären Herrschern, smart und subtil von den Diktatoren der Funktionalität und Verwertbarkeit, die das Millennium der digitalen Transformation eingeläutet haben. Die intentionalen Handlungen der Menschen werden zu einer massenhaften Intention synchronisiert, gleichgeschaltet, um so unvorhergesehene kausale, nicht intendierte Konsequenzen möglichst auszuschließen. Alles wird zielgerichtet kanalisiert, so dass idealerweise die individuellen Handlungen zu eben den kollektiven Konsequenzen führen, die die Herrschenden intendieren.

In diesem Land spricht man fließend Neusprech. Alles bewegt sich in gleichförmiger Bewegung auf ein mythisch aufgeladenes Ziel hin. Der Einzelne geht auf in der Masse, die keine konkrete individuelle Verantwortung mehr kennt, nur noch die diffuse des Kollektivs. Diese Diffusion der Verantwortung besitzt für den Einzelnen eine erregend enthemmende Kraft: Wo nur noch eine kollektive Verantwortung besteht, braucht sich niemand mehr für irgendetwas verantwortlich zu fühlen – und werden die Taten im Sinne und Interesse des Kollektivs verübt, wird auch niemand zur Verantwortung gezogen. In dieser fatalen Konsequenz ähnelt es der ethischen Konsequenz, die dem Prozess der unsichtbaren Hand inhärent ist: Hier ist es die Verantwortungslosigkeit der Vielen, die ähnlich gerichtete Intentionen verfolgen, dort die der intentional gleichgeschalteten Masse.

Der Mensch in der Masse sieht, völlig unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, Sozialisation, Intelligenz, Bildungsstand oder Alter, seine „Chance der unbestraften Unmenschlichkeit“ (Günther Anders) gekommen. Und ist geneigt, sie zu nutzen, da er keinerlei Sanktionen zu befürchten hat:

„Die Gewissheit der Straflosigkeit, die mit der Menge zunimmt, und das Bewusstsein einer bedeutenden augenblicklichen Gewalt, bedingt durch die Masse, ermöglicht der Gesamtheit Gefühle und Handlungen, die dem Einzelnen unmöglich sind.“ (Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, 1895)

6.

„Die Bedeutung eines Wortes besteht nur im jeweiligen besonderen Gebrauch.“ So zitiert Harald Weinrich nicht etwa Ludwig Wittgenstein, sondern den französischen Essayisten Paul Valery, der diesen Gedanken seinen Heften, den posthum veröffentlichten ‚Cahiers’, anvertraute.

Eine Reflexion über die Bedeutung eines Wortes, die von diesem Umstand absieht und sich mal auf diesen, mal auf jenen Teilaspekt konzentriert, ist nicht nur legitim – sie ist vielleicht auch die einzige mögliche Weise, sich dem überaus komplexen Phänomen ‚Sprache’ nähern und es wissenschaftlich präzise beschreiben zu können. Jedoch beschreibt sie dabei einen Zustand, der nicht dem des Gegenstands der Betrachtung entspricht – er besitzt, wie gesagt, keinen von uns unabhängigen Seinszustand, ist steter Fluss, millionenfacher Gebrauch, Akt, Handlung, ‚energeia’.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Zeit, die de facto ein gerichtetes Kontinuum, aber kein in messbare Einheiten zerhackter Strang ist. Nur – anders lässt sie sich für uns nicht erfassen. Wie auch das Denken, das seine eigene Conditio sine qua non, notwendige Bedingung der Möglichkeit ist, um über das Denken nachdenken zu können. Der Gegenstand der Betrachtung als seine eigene Voraussetzung. Diesem Circulus vitiosus kann niemand entkommen. Niemals. So dreht man sich bis in alle Ewigkeit im Kreise. Ändern kann der Mensch daran nichts, er kann nur seine grundsätzliche Beschränktheit einsehen. Und sich seinen Teil denken.

Sprache ist sie selbst immer nur im Gebrauch. Und dieser Gebrauch findet faktisch immer in spezifischen Kontexten, konkreten Situationen und Sprachspielen statt. Um zu verstehen, „wie es sich mit seiner Bedeutung verhält, muss man das berücksichtigen“ (Harald Weinrich). Mehr noch: Solche Situationen sind nur willkürliche Ausschnitte. Momentaufnahmen komplexer synchroner und diachroner Lebenswelten, gesellschaftlicher und kultureller Lebenszusammenhänge, die, so der Wissenssoziologe Karl Mannheim, den Menschen unbewusst prägen. Und damit die Struktur unseres Denkens, unsere Erkenntnisfähigkeit und Sprache.

Nun sind aber auch diese Lebenswelten und -zusammenhänge stets fluid, nie statisch. Sie ändern sich je nach unserer Stellung in der Gesellschaft. Ja, in jedem Einzelnen scheinen sie durch die je individuelle Sozialisation immer in einer unverkennbar individuellen Färbung auf. Einzigartig wie ein Fingerabdruck. Diese spezifischen Varianten sind mithin Unikate – und mit ihnen unser Gebrauch der Sprache, unser Erkennen und Denken.

Da nun diese Dreifaltigkeit in jedem von uns eine einzigartig individuelle Prägung aufweist, ist sie notwendig perspektivisch. Und damit relativ. Verabsolutiere ich diese Sichtweise, ideologisiere ich sie, so Karl Mannheim. Ein Vorgang, der alltäglicher nicht gedacht werden kann: Es ist nicht etwa ein isoliertes Phänomen, das nur in der Politik oder Religion aufscheint, sondern auch in den profanen Szenen einer Ehe. Beim Konflikt unter Kollegen. Oder bei der Spieltagsanalyse in der Eckkneipe.

Wir sind unentrinnbar gefangen in einem Netz von Bedingungen. Können nicht anders als perspektivisch denken, können uns nicht aus der Abhängigkeit unserer Lebenszusammenhänge lösen. Können nicht sprechen, ohne dabei nicht Intentionen zu verfolgen: Sprache ohne Intentionen ist keine Sprache. So wie wir nicht nicht-kommunizieren können, können wir auch nicht nicht-intentional sprechen. Die Frage ist immer nur, welcher Art die Intentionen sind, die wir verfolgen. Welche Relevanz sie für ein Gespräch haben. Ob sie tatsächlich bewusst, geplant und zielgerichtet sind oder aber, paradox genug, unabsichtlich, weil unbewusst, internalisiert, intuitiv.

Intentionen können marginal, banal, alltäglich sein. Aber auch weltbewegend. Verletzend. Verstörend. Vernichtend. Es gibt so viele Spielarten wie es Situationen gibt. Im Zweifelsfalle gleicht keine Intention der anderen. Und manchmal ist es sogar ein Bündel von Intentionen, das sich im Gespräch offenbart. Da anzunehmen, dass die Verständigung das primäre oder gar wesentliche Ziel der Sprache ist, erscheint nicht recht plausibel. Eher wie eine verkürzte, idealisierte Sichtweise der Dinge. Denn wir verwenden täglich millionenfach Sprache, belügen und betrügen einander mit ihrer Hilfe. Flunkern. Tarnen. Täuschen. Manchmal auch uns selbst. Manipulieren. Machen dem anderen etwas vor. Wollen uns profilieren. Ablenken. Aufmerksamkeit erregen. Schön färben. Das Ziel, von dem anderen verstanden zu werden, erscheint da lediglich wie eine von vielen Varianten der Kommunikation. Die auch gerne in Kombination mit anderen Intentionen auftritt. Und dabei mal mehr, mal weniger im Vordergrund steht. Wie man es beim gegenwärtigen Präsidenten der USA ganz aktuell erleben kann. Die Maxime der Kommunikation scheint also nicht zu lauten: Rede so verständlich wie möglich. Sondern allgemeiner: Rede so, dass du maximale Aussicht auf das erfolgreiche Erreichen deiner kommunikativen Absichten hast. Oder wie es Rudi Keller formuliert: „Rede so, dass du die Ziele, die du mit deiner kommunikativen Unternehmung verfolgst, am ehesten erreichst.“

Ziel ist demnach nicht die Verständigung, sondern der eigene soziale Erfolg. Und Kommunikation dient primär dazu, den anderen zu etwas zu bewegen, was in meinem Interesse ist.7.

Unser Gebrauch der Sprache wird ganz wesentlich gespeist durch ein Wissen, das, so Karl Mannheim, implizites Erfahrungswissen, „konjunktives Wissen“, ist und unsere täglichen Handlungen unbewusst und unbemerkt anleitet. So meinen wir im alltäglichen Gebrauch der Sprache zwar zu wissen, was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Aber ohne dass wir um dieses Erfahrungswissen wissen, bleibt dies ein frommer Wunsch: Ein Großteil dieses Wissens lässt sich von uns nicht oder nur höchst unzureichend explizieren. Es ist reflexiv für uns praktisch nicht verfügbar, seine Relevanz für den Gebrauch, den wir von Worten machen, kaum darstellbar.

Demgegenüber gibt es ein „kommunikatives Wissen“ (Mannheim), das zumindest theoretisch reflexiv verfügbar und explizierbar ist. Von der Möglichkeit, es zu explizieren, machen wir jedoch nur selten Gebrauch – wir machen es uns, schon aus Gründen der Sprachökonomie, nun mal gerne einfach. Und setzen im Rahmen dieses Wissens den Bestand einer Bedeutungsschnittmenge stillschweigend als gegeben voraus, die uns suggeriert, dass wir, wenn wir über etwas reden, auch über das gleiche reden. Wobei es dabei völlig irrelevant ist, ob es diese Schnittmenge tatsächlich gibt. Hinreichend ist, dass alle Beteiligten annehmen, dass dem so ist. Allein diese Annahme vermittelt schon den Eindruck einer gelungenen Kommunikation, unabhängig davon, ob der Eindruck auch nur ansatzweise mit der Realität übereinstimmt: Gelungen ist, was mir als gelungen erscheint.

Das gilt nicht nur für unseren alltäglichen Gebrauch der Worte, es gilt auch für den wissenschaftlichen Kontext. Also dort, wo die Bedeutung eines Wortes oftmals nicht sein Gebrauch in der Sprache, sondern per definitionem gesetzt und von den anderen Teilnehmern des Sprachspiels akzeptiert ist. Hier ist die Bandbreite der Bedeutung des Wortes eingeschränkt und ihrer individuellen lebensweltlichen Variationsbreite, ihrer Konnotationen und Implikationen künstlich enthoben.

Es wird in gewisser Weise eine relative Bedeutung absolut gesetzt und aus Gründen der effektiven Kommunikation bis auf Weiteres einvernehmlich ideologisiert. Wird diese Bedeutung jedoch nicht reflektiert, besteht die Gefahr, dass sich ein nachlässiger Gebrauch einschleicht. Davor sind auch wissenschaftliche Sprachspiele nicht gefeit: Termini technici, diese höchst sinnvollen „Abkürzungen für komplexe Sachverhalte“, die, so der Germanist Steffen Martens in der FAZ, „über einen langen Zeitraum hinweg“ erarbeitet wurden, werden in ihrem Gebrauch nur selten und nur ungern grundsätzlich hinterfragt. In diesem Fall wird der unreflektierte Gebrauch der Worte perpetuiert, seine Verwender werden weiter „in ihrem ‚Sprachpanzer’ hausen und durch Wortdunst ihre handwerklichen Fehler verschleiern“.

Ein Phänomen, das vor keiner Branche halt macht, wie Martens betont: „Das ist bei Ärzten, Heizungsbauern oder Juristen nicht anders.“ Dies geschieht nicht bewusst oder geplant, sondern aus Nachlässigkeit. Bequemlichkeit. Aus Ehrfurcht vor den Riesen, auf deren Schultern wir Zwerge stehen. Vielleicht aber auch ganz intuitiv aus Selbstschutz. Denn einen Gebrauch in Frage zu stellen schließt ja immer die Möglichkeit mit ein, dass er radikal revidiert werden muss. Und mit ihm möglicherweise herrschende Lehrmeinungen. Oder historisch liebgewonnene Denkmuster.

Womit wir wieder am Anfang stehen.

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2018

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend. Daher verleihen wir Stefan Oehm den KUNO-Essaypreis 2018.