Ideale der Revolution

 

Inmitten des blau-weißen Paperback-Umschlags blickt uns die fotografische Abbildung eines jungen Mannes an: Moyshe Kulbak, Autor des 1926 im Warschauer Verlag Kultur-Lige in jiddischer Sprache erschienenen Erzählbandes Montog. Eyn kleyner roman. Aufgeteilt in zwanzig Textpassagen erzählt uns ein vielstimmiger Autor die Geschichte von Mordkhe Markus, einem Philosophen, der in seiner bescheidenen Dachkammer über den Untermenschen nachdenkt, und zugleich in seinen Träumen und Visionen von der revolutionären Stimmung in der Außenwelt erfasst wird. Und diese Revolution ist real und himmlisch zugleich: „Mordhke Karkus wurde im Gedränge von seiner Partei fortgezogen…. Und dicht über seinem Kopf schimmerten riesige, polierte Sterne.“ (S. 10)

Doch Mordhke lässt sich vom schimmernden Glanz der Sterne, dem Großen Bären am Himmel, nicht verführen. Er steigt vom Berg hinab in die brodelnde Stadt, in den Hof der Synagoge, wo der Hekdesh, das Asyl für die Armenleute ist. In diesem kontrastreichen Gegensatz zwischen der Utopie der „proletarischen“ Revolution und deren Opfern bewegt sich der Handlungsstrom des „kleinen Romans“. Gestalten wie das Fräulein Gnesye, das sich nicht nur um den Philosophen Mordhke kümmert, sondern auch für die kommunistische Idee kämpft, der Jude Reb, der den Zwiespalt zwischen Judentum und jiddischer Sprache verkörpert, und „die Masse des Proletariats, das den Gürtel um den Bauch geschnallt (hatte) … und um acht Uhr ins Stadttheater (ging),“ (S. 38) tauchen gleichsam schlaglichtartig auf und werden in den Strom der Revolution geschleudert.

Spätestens in solchen Passagen, die vom bizarren Geist der proletarischen Revolution im Russland der Jahre 1917/18 erfüllt sind, wird der Leser selbst zwischen zwei Handlungsebenen hin und hergetrieben: der Ebene der Reflexion, auf der die Protagonisten über den revolutionären „Geist“ nachdenken, und der Handlungsebene, auf der sie in den Strom des ausgebrochenen Bürgerkriegs hineingezogen werden. Der Philosoph und Künstler Mordhke Markus aber ist bereits in der Erzählpassage Nr. 8 auf beiden Ebenen angelangt. Er sitzt schuldlos im Gefängnis, weil er die Armenleute aufklären wollte, was zu seiner Verhaftung führte. Und dort während seiner Begegnung mit dem Reb Skharye erfährt, dass sich dort oben bei Gott nichts befinde und es den Lebenden besser gehe als den Toten.

Nein, es ist keine „aus der Stille“ kommende Fiktion, die uns Moyshe Kulbak präsentiert. Es ist vielmehr die grausame Erkenntnis, dass die in die Mühle der gefräßigen Revolution geratene Menschenmasse keine Chance auf eine Aufklärung ihrer Verhältnisse erhält, mehr noch, dass sie keine Rettung von allem Übel erleben wird, wie auch der Autor, der mit seinem Protagonisten Mordhke viele gemeinsame Züge trägt, sogar die Vision von seinem Tod im Gefängnis. Im milden Gegensatz allerdings zu Mordhke, den Kulbak im Spital sterben lässt, wo er das Vidui spricht, Gebete angesichts des Todes über die Abwägung der eigenen Sünden, im Beisein der Armenleute. Und Moyshe Kulbak? Er wird rund zehn Jahre nach der Publikation seines „kleinen“ Romans in Minsk im Herbst 1937 von einem stalinistischen Gericht zum Tod durch Erschießen verurteilt, wegen Verbreitung antisozialistischer Ideen.

Es gehört zu den besonderen Verdiensten der Übersetzerin Sophie Lichtenstein, dass sie nicht nur den stilistisch vielschichtigen Text überzeugend ins Deutsche übertragen hat, wobei sie charakteristische Merkmale des Jiddischen, wie die Verdoppelungen von Adverbien oder die Nachstellung von Verben im Satzgefüge zum Nutzen des Originals bewahrt hat. Sie hat auch einen überaus lesenswerten Essay („Nichts an diesem Roman ist klein“) geschrieben. Sie würdigt den 1896 im litauischen Smorgon, damals noch im Russischen Reich, geborenen Autor „als Popstar seiner Zeit“ (S. 105), der bereits in den frühen 1920er Jahren zu jenem Kreis der letzten drei bedeutenden Vertretern der klassischen jiddischen Literatur (Mendele Moicher Sforim, Jizchak Leib Perez, Scholem Alejchem) gehörte. Umso tragischer war es, dass er bereits 1928 in das sowjetische Minsk übersiedelte, weil er, abgesehen von familiären Gründen, sich bessere existentielle Bedingungen erhoffte und im Stillen davon überzeugt war, dass sich unter der „aufgeklärten“ Sowjetmacht keine antisemitischen Pogrome ereignen würden. „Montag ist ein Roman voller Fundstücke, Geheimnisse und Verweise“ – mehr noch, dieses Urteil der Übersetzerin, die dem beflissenen Leser auch eine Liste der im Text auftauchenden jiddischsprachigen Begriffe anbietet, darf noch erweitert werden. Dieser Roman ist ein Juwel, eine Fundgrube, in der die kostbarsten Geheimnisse der ostmitteleuropäischen jiddischen Lebenswelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbewahrt sind. Umso erfreulicher ist es, dass nach der Veröffentlichung von Moischer Kulbaks „Der Messias vom Stamme Efraim“ im Volk & Welt Verlag 1996 nun im Berliner Verlag FOTOtapeta ein weiterer Edelstein poliert worden ist.

 

 

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MONTAG. Ein kleiner Roman von Moyshe Kulbak. Aus dem Jiddischen von Sophie Lichtenstein. Berlin (fotoTAPETA) 2017