Losgehen

 

Den gesamten Abend hatten sie sich unterhalten, über Kunst und Literaturen, dann natürlich über typisch deutsche Befindlichkeiten, über die Art des Marketings von Kunst und Literatur, dabei nicht das Häuten der Zwiebel von GraSS ausgelassen, einen Essay von Herrn Schlehe (alter Bekannter unbekannter Herkunft aus Mühlheim) besprochen. Sie hatten halb wohlwollend Leni Riefenstahl auseinandergelegt und ganz nebenbei mit dem Roten Korsaren mit Burt Lancaster verglichen, alles dies höchst unwissenschaftlich und mit jeder Flasche Wein engagierter. Sie hatten festgestellt, wie gut sie doch eigentlich seien, dies allerdings von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen würde. B. hatte seinen neuesten Essay über die Poesie vorgestellt, der allerdings erst zwei Jahre später erscheinen sollte und daher zunächst im Verborgenen wirken müsse. Sie hatten natürlich, denn das gehört schließlich dazu, auch derbe Witze gerissen über Neon Rausch, äh Rauch, die Leipziger Schule und die alten Düsseldorfer Malerfürsten, nicht deren Bilder, aber deren Schmuck bewundert, über typisch teutsche Kunst und warum einige Künstler dermaßen gehypt würden. Sie hatten leckere Rouladen gegessen mit Pauls Geheimfüllung, einfach ein Traum, vier verschiedene Sorten Wein getrunken, sich von einem netten französischen Landwein zu einem Bordeaux, gereift im Bariquefass,  hochgearbeitet, die Stimmung war angeschwollen bis zu B.s Zusammenbruch, er war einfach eingeschlafen und nicht mehr zu wecken gewesen. Herr Nipp und Paul hatten dessen ungeachtet weiter gesprochen, sich weit schweifende Gedanken über neue Projekte gemacht, die alten Weisen wurden dabei trefflich kolportiert. Projekte übrigens, die sie niemals würden beenden können, geschweige denn anfangen, weil Paul sein Ende in sich trug. Sie gingen bis an die Grenzen des Verständlichen, denn ab einem Punkt können die Ausdrücke des Anderen einfach nur noch interpretiert, aber nicht verstanden werden. Die Wörter wurden zielstrebig verkürzt oder eben aus Nachlässigkeit verstümmelt, die Artikulation nahm sich aus, wie die von kleinen Kindern.

Herr Nipp hatte sich irgendwann die warme Winterjacke übergezogen, hatte sich verabschiedet, hatte die Tür geöffnet und hinter sich zugezogen, er hatte auf dem Weg nach Hause Autos an sich vorbeifahren und neben sich halten gesehen, er hatte ein Gespräch über die Philosophie von einem Bekannten durch den Fensterrahmen eines japanischen Kleinwagens geführt. Nietzsche. Den ganzen Weg über hatte Herr Nipp einen Satz im Kopf gehabt, diesen mit immer neuen Betonungen ausgesprochen. Vor sich hin gebrabbelt, hatte den allmählichen Bedeutungswandel gemerkt, allerdings nicht den Schritt seiner Füße, das leichte Wanken und Schlendern, er hatte einen Abend hinter sich gebracht, wie im Traum. Ich lebe noch ich lebe noch ich lebe noch ich lebe noch ich lebe noch ich liebe ich lebe noch. Dieses eingeflossene Ich liebe hatte ihn stutzen lassen.

Zwei Straßen weiter hatte er einige Bilder eines sehr entfernten Bekannten gefunden, der ihm nicht ganz gleichgültig war, denn er teilte einen Teil seiner Geschichte mit diesem,  auf einem Sperrmüllhaufen. Hatte zwei ausgesucht und mitgenommen. Diese würden ihm später als Regalbretter dienen. Er hatte an die Aufzeichnungen von Rilke gedacht, hatte über die Sequenz Sehen gedacht, die ihm vor Jahren so haften geblieben war: „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.“

Und „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.“

 

 

 

***

Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

Post navigation