Statt eines Nachworts – der Frager wird zum Befragten

Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.

Goethe

ULRICH PETERS: Zwischen 1995 und 1999 hast du gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland, Belgien, Österreich, Rumänien und der Schweiz eine Reihe von Kollegengesprächen gemacht, wie kam es zu dieser Idee?
A.J. WEIGONI: Ausgang dazu war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit meinen Gesprächspartnern, die ich subjektiv auswählte, stimmte ich weitestgehend darin überein, dass Literatur in diesem unserem Lande von Germanisten beurteilt wird, also von Fachleuten, die wahrscheinlich am wenigsten über den Gegenstand wissen, über den sie im allgemeinen Interesse urteilen.
PETERS: Leider kann man deinen ironischen Unterton nicht auf dem Papier hören…
WEIGONI: Es gibt Formen von heilsamer Verunsicherung… nach innen muss man konzentriert arbeiten, nach aussen Klartext reden. Es ist bekannt, dass eine Seilschaft von Literatur-Wissenschaftlern einen Kreis von Germanisten mit Preisen und Stipendien versorgt und eine Literatur fördert, die keine Leser findet. Dieser Tölpelskreis lässt sich durchbrechen, die Künstler müssen selbstbewusst in den Diskurs eingreifen und nicht weiter das Feld den Zweitverwertern überlassen.
PETERS: Zum Projekt.
WEIGONI: Für diese Form von Gesprächen nahmen wir uns Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium, dem Briefeschreiben, stellten wir uns Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren könnten. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, das Interview, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als die sogenannten Fachleute. Ich denke, es ist uns gelungen eine Sekundärliteratur zu produzieren, die ihren Namen verdient.
PETERS: Weil du als Lyriker, Romancier und Dramatiker arbeitest, hast du dich als vielseitig verkrachte Existenz bezeichnet…
WEIGONI: Mir bereitet es grosse Freude, wenn das Wort zu Fleisch wird. Da komme ich mit meiner Arbeit mehr vom Hörspiel, also einem Medium, das bereits 70 Jahre alt ist, da steht das Wort häufig im Mittelpunkt. Allerdings betone ich das Wort Spiel im Hörspiel. Das Spielen scheint mir der Königsweg zum Verständnis der neuen Medien zu sein. Computer, Studios und Software sind keine Werkzeuge, sondern Spielzeuge, wobei die alten Medien als Navigationshilfen dienen. Ich denke, dass die sogenannten neuen Medien die Alten lediglich ergänzen und nicht ablösen werden. Bei der Literaturclips-CD haben wir zum einen arrièregardistische Arbeiten gemacht, zum anderen ein altes Aufnahmemedium, den Kunstkopf mit einer zu dieser Zeit neuen Aufnahmetechnik, sprich DAT gekoppelt. Damit konnten wir dann praktisch Road-Radio machen und jeden Raum in ein Aufnahmestudio verwandeln. Wir erarbeiteten Soundscapes um der Poesie neue Klangräume zu eröffnen. Die Notwendigkeit der Literaturclip-CD ergab sich damals schon aus dem Verfall der klassischen Hörkultur (Stichwort Begleitprogramm) und dem fortschreitenden Verdrängungsprozess auf dem durch Hochtechnologie geprägten Medienmarkt. Daraus entstand dann in der Abfolge zwangsläufig das Live-Hörspiel Fünf – oder die Elemente, das 1993 im Veranstaltungssaal des Gutenberg-Museums im Rahmen der Mainzer-Minipressen-Messe uraufgeführt worden ist.
PETERS: Lange bevor Andreas Ammer Apokalypse-Live in München aufführte.
WEIGONI: Wir haben den „Anstalten des öffentlichen Rechts“ im deutschsprachigen Raum dieses Live-Hörspiel-Projekt bereits im Herbst ´92 zur Kooperation angeboten, damals bestand nach Auskunft der Dramaturgien kein Bedarf…
PETERS: Das Spannungsfeld Bühne / Elektronik / Studio hat dich in den 90-ern nicht losgelassen.
WEIGONI: Unlängst hatte ich den Auftrag, für die Reihe „Forum“ in D-Dorf ein Libretto zu schreiben, aus dem Texte der »Letternmusik« stammten. Der Komponist Thomas Blomenkamp setzte die Gedichte kammermusikalisch für die Uraufführung in der Reihe forum 20 im Ibach-Saal am 25. November 1995 um. »Letternmusik im Gaumentheater« ist eine tonale Komposition mit sprachlichen Mitteln. Streckenweise grooved die Sprache wie Rough’n’Roll. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich dekonstruiere ich Sprache und mache sie als Material sichtbar. Lyrik, das ist meiner Ansicht nach auch Performance. Nirgendwo entfalten sich Gedichte so, wie auf der Bühne, einem Stück Theater.
PETERS: Es war dir immer wichtig mit bildenden Künstlern zu arbeiten.
WEIGONI: »Schland« ist die mir wichtigste Arbeit, weil hier Bildende Kunst, Komposition und die Darstellende Kunst sinnfällig ineinander gegriffen haben. »Schland« ist ein Zeitfetzen. Ein akustischer Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Er folgt dem poetischen Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.“ Mit dem Künstler Peter Meilchen arbeitete ich an einem Stück, das sich zwischen bildender Kunst, Theater und Performance bewegte. Die bisherigen Aufführungen bestätigten: Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poe’s: „Man sieht es und sieht doch hindurch“.) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. Im Gegensatz zum oft beliebigem High-Tech-Bilderschaschlik, wurde Schland mit einem scheinbar antiquierten Bildträger gedreht: Super 8 S/W-Material. Peter Meilchens Nachbearbeitung mit Tipp-Ex, Tinte, Farbstiften und das partielle Zerkratzen der Filmoberfläche kommentiert und verfremdet den Film zugleich. Genauso wie der Blick manipuliert wird, wurde die Tonspur bearbeitet. Wir hören als Continuum: Zikaden aus dem Mittelmeerraum, Kühe vom Niederrhein, Kuhglocken aus dem Zillertal und Unken aus dem Aquazoo. Die heile Welt als virtuelles Ereignis.
PETERS: Den Glauben an die Poesie hast du nicht verloren?
Weigoni: Ich befrage sie, nach wie vor. Beispielsweise in dem Langgedicht »Señora Nada«, das in der klassischen Form eines Funkmonologs daherkommt und damit scheinbar klangästhetisch weit hinter die Arbeiten etwa eines Günter Eich zurückfällt… ich bevorzuge es, durch Inhalte zu provozieren und nicht durch Dolby-Surround. Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Ich suche die Poesie im ältesten „Literaturclip“, den die Menschheit kennt: dem Gedicht.
PETERS: Deine CDs sind ein ungeheuer facettenreiches Klang-Inferno, dies wird besonders deutlich bei deiner CD Top 100, die, wenn man sie den gängigen Hörbüchern gegenüberstellt, deutlich macht, wie unterschiedlich und dennoch ähnlich wirkungsvoll Literatur musikalisch umgesetzt werden kann.
WEIGONI: Diese Vielfalt sehe ich als grossen Vorteil. Momentan verfügen wir über die ganze Bandbreite an künstlerischen Möglichkeiten, die sich vor allem technisch umsetzen lassen. Auf Top 100 finden sich Techniken und Arbeitsweisen aus 70 Jahren Hörspielgeschichte…
PETERS: Kannst du zur Erläuterung einige Beispiele nennen?
WEIGONI: Da prallt das Sampling eines legendären Walter Ruttman-O-Ton-Stücks auf eine klassische Sprech-Stimme, die gegen ein rückwärts laufendes Band anspricht und auf einen Proloriff kracht, der mit Streetsound gekreuzt wird… bis hin zu einer Hommage an Orson Welles; und natürlich alle digitalen Leckereien, die auf dem damaligen Stand der Technik möglich waren. Diese Werkgruppen sind ineinander verflochten. Es findet sich das Hörspiel als Bagatelle, Triviale Maschinen sind ebenso zu hören wie Streetsounds, das Hörspiel als Rough’n’Roll und eben das Hörspiel als Spiel.
PETERS: Seit fast 10 Jahren arbeitest du dich an Trivialmythen ab. Zuerst waren es sogenannte Gossenhefte, später kam »RaumbredouilleReplica«…
WEIGONI: Ein Hörspiel als Pop-Song, ein Popsong als Hörspiel, ein Hörspiel, das sich tanzen lässt… „Was heute noch wie ein Märchen klingt…“
PETERS: So haben sich die Deutschen in den 60-ern die Zukunft vorgestellt, als autoritären Staat…
WEIGONI: … in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der als Vorläufer des heutigen Rap bezeichnet werden kann. „Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit und ihre Kolonien im Weltraum.“ Bei der runderneuerten Hörspielcollage »RaumbredouilleReplica« geht es um alles: Die Bedrohung der Erde. Einen gesteuerten Schnelläufer. Eine Invasion und natürlich: Die Rettung der Erde. In Tom Täger habe ich nun den optimalen Kooperationspartner gefunden. Täger, der in seinem Tonstudio an der Ruhr die ersten Alben von Helge Schneider produziert oder die Misfits begleitet hat, hat ebenfalls ein Faible für Trash. Unsere erste gemeinsame Arbeit »RaumbredouilleReplica«…berücksichtigt die Anforderung des klassischen Science-Fiction (Bedrohung der Erde, Rettung derselbigen) und ergänzt sie um Chiffren der Popkultur.
PETERS: „Wenn es Videoclips gibt, muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.“ hast du kackfrech vor Jahren proklamiert.
Weigoni: Es sind kurze Ausrisse. In diesem Bereich bin ich Praktiker und sehe mich zu theoretischen Äusserungen nicht in der Lage, da Reflexion und Kontrolle in der Praxis stattfinden, also der Wirklichkeit der Produktionsbedingungen und der sich stetig verändernden Technik standhalten müssen. Früher haben die Künstler Manifeste geschrieben. Nun ist 1999. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne eine Passage aus dem Arbeitspapier von Top 100 zitieren…
PETERS: Nur zu!
WEIGONI: „Mit der Industrialisierung begann das Zeitalter der Kurzgeschichte. Damit war die Geschichte des bürgerlichen Bildungsromans beendet. Wenn die Geschichte der Medien die Geschichte einer Konkurrenz ist, begann sie mit einem Vorsprung. Die Dichter hatten die Montage entdeckt, als die ersten Photographen noch Stunden brauchten, um ein einzelnes Bild zu entwickeln. Es war, als hätte die Literatur den Film erahnt und als er kam, genossen sie gemeinsam den Rausch der sich überstürzenden Eindrücke. Das Drehbuch wurde erfunden, später der Funk mit dem Hörspiel begrüsst. Als das Fernsehen sich breit machte, fand es die Schriftsteller schon in skeptischer Distanz. Multimediales Spiel mit Video, Performances und Installationen dachten Maler und Musiker sich aus, deren Zaungäste manchmal auch Dichter waren. Der Videoclip, ein durch Bildschnitt und Rhythmus bestimmtes Medium, überholte sie alle. Trotzdem verweigert sich die Wortkunst seiner Inspiration. Es scheint, dass sich die Literaten vom flüchtigen ästhetischen Reiz nicht den langen Atem rauben lassen wollen. Uns ist diese kurze Form einen Versuch wert. Schon weil sie sich an einem anderen Ende der Welt ganz unverdächtig bewährt hat: im japanischen Haiku. Haikus sind einfache Sätze. Beobachtungen, in denen fast nichts passiert. Nur dass gerade ein Frosch ins Wasser springt. Der Haiku bedeutet nichts und wirkt trotzdem. Zwischen der Leere des Zen-Spruchs und dem hysterischen Rhythmus des Videoclips ist eine Form zu entdecken, die sich hören lassen kann. Nur so kann Literatur, will sie auf die veränderten medialen Verhältnisse und die dadurch erzeugten Wirklichkeiten reagieren, einen innovativen Input erhalten und letztlich eine weitere Existenzberechtigung. Mit der Digitalisierung beginnt das Zeitalter des Literaturclips. Nach einer Minute ist alles vorbei. Umschalten. Dann kommt die nächste Story.“
PETERS: Meinst du das wirklich ernst?
WEIGONI: Mit dem von mir geliebten rheinischem Humor ist Top 100 eine ironische Antwort auf unsere Hitparadenkultur. Wo auf überkommene Formen verzichtet wird, müssen neue Logistiken ausprobiert werden. Hier mit Kurzhörspielen, die in maximal einer Minute erzählt werden und den Fragmentarismus der 90-er Jahre widerspiegeln.
PETERS: Die Gästeliste deiner CD ist beeindruckend. Wie bist du an die ganzen Leute gekommen?
WEIGONI: Es sind fast alle alte Kollegen von mir, die aus einem trockenen Konzept ein Kunstwerk gemacht haben. Poetische Momente von Der Plan treffen auf industriellen Lärm, die Licks von Phillip Boa auf lyrische Momente des Komponisten Karl-Heinz Blomann, Grooves von Scoredreth auf das Gebrummel des Rezitators Christof Wackernagel. Ginka Steinwachs spielt Geige…
PETERS: …die du am Mac mit einem Soundprogramm noch verfremdet hast…
WEIGONI: So ähnlich sind auch andere Clips entstanden! Gefragt war bei Top 100 also die Idee pur, ohne chemische Zusätze. Insgesamt 99 Bagatellen warten auf ihre Umsetzung, um dann durch den Hörer neu umgesetzt zu werden. Wenn man die Taste Random oder Shuffle drückt, setzt der Zufallsgenerator im CD-Player das digitale Hörspiel zusammen.
PETERS: Den Titel Nummer 100.
Weigoni: Exakt! Bei der Uraufführung im Kulturbahnhof Eller habe ich die Zeit ausgewürfelt, die Augen sagten: 7 Minuten.

 

 

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Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten  abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.