Rapunzel und Hans im Glück

 

Sie

Erst hatten wir nichts voneinander gewusst. (Ich kannte nur den Turm und die Stiefmutter.) Dann haben wir uns aus den Augen verloren. (Einer von uns hatte die Augen verloren hieß es in den sehr alten Schriften, die wir einander vorlasen, als bekämen die Worte erst durch uns einen Sinn.)

Er

Sie lebte allein. Sie hatte Talent. Sie sang diese sehr alten Lieder. Ihre Stimme war golden. Ich hatte schon manches Gold besessen, es hatte mir nichts bedeutet. Ich hatte alles leichtfertig weggetauscht, aufs Spiel gesetzt. (Verloren, sagten die meisten.) Meinetwegen verloren. Ich hatte es nicht bemerkt, hatte nichts bereut. Dieses Gold hatte mir nichts bedeutet. Ihre Stimme, ihr Haar, der Schatten ihrer Bewegungen hinter dem Fenster, war das erste, das ich wirklich besitzen wollte.

Sie

Hören und sehen, sagen sie. Meine Zeit aber ist befleckt.

Er

Wie das Leben vorbeischlendert. Nichtsnutzig. Unbeschwert. Ungerührt.

Sie hatte Rapunzel für ihr Eigentum gehalten. Ich hielt sie für mein Glück. Als wir aufeinander trafen, trat das Leben ein Stück zurück. Die Alte verlor alles. Ich verlor nur die Sicht. Und gewann eine neue Suche.

 

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Bis der Schnee Gewicht hat: Märchenmotive (Lyrik) von Elke Engelhardt, Pop-Verlag, Ludwigsburg.

Der Anfang waren die Märchen der Brüder Grimm und Hans Christian Andersens, die mir, wie wohl den meisten anderen Kindern auch, erzählt wurden. Später dieselben Märchen, diesmal mit mir als Erzählerin und Anne Sexton, die mir beim Vorlesen über die Schulter sah, und nach und nach immer mehr neue Fäden in meine Gedanken und in die alten Geschichten spann. So sind über die Jahre Gedichte und kurze Geschichten entstanden, die ihren Ursprung nicht verleugnen, sondern versuchen, diese Quelle zum Ausgangspunkt eines eigenen Weges zu machen. Die hier zusammengestellten Texte vollziehen den Weg zwischen dem Versuch, eine eigene Form zu finden, und dem spielerischen Rückgriff auf die Traditionen nach.

 

Weiterführend →

Lesen Sie zum Themenfeld Märchenmotive auch einen Essay von Holger Benkel über die Brüder Grimm.