Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie

Übersetzen ist Deuten. In diesem Sinn ist Malen ebenfalls Übertragung und Deutung. Wir begegnen also in diesem Buch zwei Übersetzern, der eine bemüht das Wort, die andere den Pinsel. Lassen wir uns auf ihre Deutungen ein. Es könnte unser Glück sein.

Wolfgang Kubin

Es ist die erstaunliche Nähe zur europäischen Literatur des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit Themen, Metaphorik und gedankliche Pointierung zum Schluss der Gedichte. Der Schwerpunkt liegt bei den frühen Gedichten auf der subjektiv erfahrenen Welt (Li Bai), bei den Gedichten der Moderne wird stärker der unaufhebbare existentialistische Konflikt des Einzelnen in einer gebrochenen Welt gesehen (Yang Lian) oder die Rettung ins Kollektive (Mao Zedong).

„Ulrich Bergmann erfüllt mit seiner neuen Aufgabe etwas, was chinesische Schriftsteller kaum in Angriff nehmen. Bis auf zwei Vertreter stammen alle hier vorgelegten Texte aus der goldenen Zeit chinesischer Zivilisation. Doch wie passen Mao Zedong (1893-1976) und Yang Lian (geb. 1955) dazu? Ganz einfach: Mao ist geschult am klassischen Gedicht der Tang-Zeit und am klassischen Lied der Song-Zeit (960-1279). Er konnte kein modernes Gedicht schreiben! Und Yang Lian? Bevor er 1979 auf das neue Poem umsattelte, hatte er bereits zweihundert alte Poeme unter der Anleitung seines Vaters verfasst.“, schreibt Wolfgang Kubin.

Die Dichter der Moderne träumen wie die alten Meister in Bildern der Sorge und Angst und der Hoffnung. Weiterhin bleiben Naturmetaphern wichtig. Melancholie und Resignation der Tang-Zeit reicht bis in unsere Gegenwart (Yang Lian), nun bewusster. Das gilt auch für die Fiktion oder Ideologie einer in der Solidarität aller Menschen aufgehenden Gesellschaft bei Mao Zedong, dessen Naturbilder politische Dimensionen eröffnen.

Zugunsten der deutschen Übersetzung und Übereinstimmung mit dem chinesischen Original habe ich keine Reime forciert oder gar die altchinesische geregelte Ordnung der Gedichte übernommen; das ist schon gar nicht machbar, was die Folge der Töne angeht. Ich wollte maßvoll, nie zwanghaft oder zwingend, ein Metrum finden, das zum Gedicht passt. Ich achte die Ideen und Formen der alten Meister. Mit diesem Gefühl und Bewusstsein begegnete ich den chinesischen Dichtern. Ich habe Yang Lian live in Bonn und in Wolfgang Kubins Übersetzungen schätzen gelernt.

Ulrich Bergmann

Es ist der romantische Ton der Sehnsucht, der uns heute noch aus manchen der alten Gedichte anweht, teils sanft-ironisch gebrochen, es sind die meist knapp gezeichneten Lebenssituationen, die große Gedankenräume erzeugen auch in der neueren Lyrik Chinas, in der allerdings surrealistische Bilder und zerebrale Reflexionen stärker werden und sich mit europäischen berühren. Während in der alten Literatur Legenden, Mythen und vergangene Geschichte oft bedeutend sind, um die Gedichte angemessen zu verstehen, werden Gegenwartsgeschichte und politische Theorie in der neueren Literatur immer wichtiger.

 

 

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Gedichte aus der Zeit der Tang-Dynastie und aus dem 20. Jahrhundert
26 Gedichte chinesisch/deutsch übersetzt von Ulrich Bergmann
26 Bilder von Doris Distelmaier-Haas
Mit einem Geleitwort von Wolfgang Kubin
152 Seiten, Deutsch und Chinesisch, kleine Ölbilder in Weiß auf schwarzer Grundierung, Lesebändchen, geb.

Bacopa-Verlag, 2015