Größenwahn und Kontrollsucht – Das Ende der Demokratie?

Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.

  Michel Foucault, Der Wille zum Wissen

Gott ist tot (Friedrich Nietzsche) und mit ihm die demokratischen Werte, so scheint es in Anbetracht von Prism, Tempora …

Die Macht der Sprache oder wie wird aus einem X ein U

Fast zeitgleich mit der finanziellen Abwertung bestimmter Berufe ging eine sprachliche Aufwertung einher. Was passiert, wenn dem für unmündig gehaltenen Bürger etwas genommen werden soll, was er zum Leben benötigt: eine sprachliche Aufwertung. So wurde z.B. aus dem Hausmeister ein Facility Manager, um mit dem verbalen Aufstieg zum Manager darüber hinwegzutäuschen, dass fortan ein Großteil des Gehaltes nicht mehr auf sein Konto eingeht, sondern auf das seiner Personalvermittlungsfirma. Nach der Einführung der sozialen, beruflichen und finanziellen Verarmung der Arbeitslosen mittels Hartz IV, Zwangsarbeit und weiteren Zwangsmaßnahmen, wurden aus den ehemaligen Klienten »Kunden«, um die menschenverachtende Arbeitspolitik zu vertuschen, die autoritären Verhältnisse zu leugnen. Diese Liste ließe sich ewig fortsetzen, jedoch sollen hier wenige Beispiele genügen, um aufzuzeigen, wie mit Sprache manipuliert und Macht ausgeübt wird.

Ähnliches passierte bei Prism, statt den Lauschangriff als solchen anzuerkennen, wird er als Sicherheitsmaßnahme zur Terror- und Kriminalitätsbekämpfung dargeboten, in der Hoffnung der Bürger denke nicht nach: Die Ausrede, es könne sich hierbei um Kriminalitätsbekämpfung handeln, ist lächerlich, da die organisierte Kriminalität in unserem Land objektiv zugenommen hat: Menschenhandel, Drogenringe, Pädophilenringe sowie Waffenhandel wurden nicht ausgehebelt, sondern als Subkulturen am Rande der Gesellschaft weiterhin gepflegt. Wären die Lauschangriffe aus Sicherheitsgründen eingeführt, ist festzustellen, dass kriminelle Vereinigungen weder verschwunden sind, noch hat es nennenswerte Erfolge zur Bekämpfung dieser gegeben, dies lässt nur zwei Schlüsse zu, 1. die Kriminalitätsbekämpfung ist nicht gewollt oder 2. es geht nicht um Sicherheit. Wenn also unsere Gefängnisse weiterhin  von Kleinkriminellen besiedelt sind, obwohl angesichts der Totalüberwachung und ihren Möglichkeiten, Gefängnisse auch mit Großkriminellen belegt werden könnten, müssen wir zu dem Schluss kommen, es geht allein um Macht, um Weltherrschaft, ein Wissen über alles und jeden. Wo aber bleibt die Demokratie, die jedem Menschen ein Grundrecht auf Freiheit und Privatheit zusichert?

Ist die Demokratie in Gefahr?

Spätestens seit Prism wissen wir, dass unser Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht, Privatheit wurde abgeschafft, Grundrechte auf Würde, Freiheit und Unversehrtheit existieren nur noch auf dem Papier. Wir sind geschockt, so geschockt, dass die Reaktionen von „ich habe nichts zu verbergen“ bis hin zu „unsere Demokratie ist in Gefahr“ reichen.

Giorgio Agamben untersuchte das nackte Leben in Lagern und totalitären Staaten. In Homo sacer untersucht er, wieso eine Gesellschaft von einer Demokratie in einen totalitären Staat umgewandelt werden kann und umgekehrt, er beschreibt die Berührungspunkte von Demokratie und totalitärem System folgendermaßen:

Die Sache ist die, daß ein und dieselbe Einforderung des nackten Lebens in den bürgerlichen Demokratien zu einem Vorrang des Privaten gegenüber dem Öffentlichen und der individuellen Freiheiten gegenüber den kollektiven Pflichten führt, in den totalitären Staaten dagegen zum entscheidenden politischen Kriterium und zum Ort souveräner Entscheidungen schlechthin wird. Und nur weil das biologische Leben mit seinen Bedürfnissen überall zum „politisch“ entscheidendem Faktum geworden ist, besteht überhaupt die Möglichkeit, die sonst unerklärliche Geschwindigkeit zu begreifen, mit der in unserem Jahrhundert die parlamentarischen Demokratien in totalitäre Staaten haben umstürzen und die totalitären Staaten sich beinah ohne Übergangslösung in parlamentarische Demokratien haben umwandeln können. In beiden Fällen vollzogen sich die Umbrüche in einem Umfeld, wo die Politik sich schon seit längerem in Biopolitik verwandelt hatte und wo der Einsatz nunmehr bloß darin bestand, zu bestimmen, welche Organisationsform sich für die Pflege, die Kontrolle und den Genuß des nackten Lebens am wirksamsten erweisen würde. Wenn das nackte Leben zur fundamentalen Referenz geworden ist, verlieren die traditionellen politischen Unterscheidungen (wie jene zwischen rechts und links, Liberalismus und Totalitarismus, privat und öffentlich) ihre Klarheit und Intelligibilität und treten in eine Zone der Unbestimmtheit. Auch das plötzliche Abdriften der Klassen des Exkommunismus in den extremsten Rassismus (wie in Serbien mit den Programmen der „ethnischen Säuberung“) und die Wiedergeburt des Faschismus in Europa haben hier ihre Wurzeln.  (Giorgio Agamben, Homo sacer, Die souveräne Macht und das nackte Leben, S. 130)

Wo hört also die Demokratie auf und wann fängt das totalitäre System an?

Prism ist hier der erste Höhepunkt, ein wahrnehmbarer Skandal für jeden, gegen die Grundrechte einer Demokratie. Doch wo waren die Anfänge? Laut Agamben kippt ein demokratisches System u.a. durch Unbestimmtheit, fehlende Klarheit, die annähernde Gleichheit der Parteien, in ein totalitäres System.

Spätestens seit Gerhard Schröder wissen wir, auch unsere Regierungsparteien unterscheiden sich nur noch diffus voneinander, die SPD, die früher den Sozialstaat verteidigte, hat mit dem Einführen von Hartz IV und Zwangsarbeit für Arbeitslose (1-Euro-Jobs) bewiesen, dass sie ihre sozialdemokratische Position aufgegeben und damit dem Einführen von Niedriglöhnen, Lohndumping und ein Ausbeuten von Leiharbeiten durch Vermittlungsfirmen und Arbeitgeber Vorschub geleistet hat. Heute ist es im Niedriglohnsektor kaum noch möglich, wenigstens das volle, niedrige Gehalt zu erhalten, welches der Arbeitgeber zahlt, da ein Großteil des Gehaltes von den Vermittlungsfirmen eingestrichen wird.

Die Einführung der Zwangsarbeit (1-Euro-Jobs) war bereits ein großer Angriff auf die deutsche Verfassung, in der in Artikel 12 ein Grundrecht auf Berufsfreiheit und ein Verbot der Zwangsarbeit erlassen sind.

Um eine Gegenwehr der Arbeitslosen in Bezug auf die Zwangsarbeit auszuschließen, wurde ihnen die Würde genommen, indem ihnen statt eines kleinen staatlichen Gehaltes, weiterhin Hartz IV plus einem Sklavenlohn ausgehändigt wurde, der zur Deckung des ordnungsmäßigen Erscheinens (wie Fahrkarte, neues Hemd) bezahlt wurde. Statt die Arbeit (etwas besser) zu bezahlen, wurden nun aber Arbeitgeber mit 500 Euro monatlich entlohnt, wenn sie zu dieser Versklavung beitrugen, was zur Folge hatte, dass weitere Stellen gestrichen werden konnten.

 Um die Bevölkerung vom Verfassungsverstoß abzulenken und auf die Seite der undemokratischen Maßnahmen zu ziehen, wurde zeitgleich eine Medienhetze gegen Arbeitslose gestartet, in der Arbeitslose als faul und schmarotzend dargestellt wurden: die Folge war, dass nicht der Verfassungsbruch angeprangert wurde, sondern der Arbeitslose selbst, der von nun an vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen bleiben sollte, Dies diente natürlich auch zur Abschreckung der arbeitenden Bevölkerung, deren Angst, Anpassung und Konkurrenzdruck wuchs und  dadurch in weiten Teilen, Arbeitende von mündigen, kritischen Arbeitnehmern, zu angepassten, obrigkeitsgläubigen Untergebenen mutieren ließ. Sie wurden zum Spielball, sodass sich undemokratische, antisoziale Strukturen nicht nur in der Politik, sondern auch im Arbeitsleben und der Gesellschaft verbreiteten. Die Folge ist ein steigendes Aufkommen an Mobbing sowie Burnout-Syndrom..

Seit langem können Telefonate abgehört werden. Das Eindringen in die Privatsphäre eines Menschen unterlag und unterliegt immer noch, eindeutigen gesetzlichen Regelungen: In Deutschland ist es legitim, wenn ein begründeter Verdacht auf ein schwerwiegendes Verbrechen vorliegt, ein Richter entscheidet über die Genehmigung einer Abhörmaßnahme (Artikel 13). Durch Prism und Tempora werden also unsere demokratischen Grundsätze ausgehebelt, inwieweit die deutsche Regierung selbst in diesen Skandal, die demokratischen Grundrechte zu unterlaufen, involviert ist, selbst einen Nutzen davon trägt, ist ungewiss, sicher ist, sie hat nicht schützend eingegriffen, weder politisch, noch technisch.

Searle unterscheidet ökologische Macht von politischer: Politische Mächte beruhen nicht auf einem Verlangen, sondern seien deontisch. Ein politisches System sei nur aufgrund von Versprechen möglich, diese Versprechen befinden sich in den Gesetzbüchern, unter anderem sind hier unsere Grundrechte geregelt.

Macht ist nicht von vornherein etwas Schlechtes, sie wird schlecht, wenn sie missbraucht wird, wenn sie zum eigenen Vorteil und dem Nachteil der anderen eingesetzt wird. Kontrollsüchtige, narzisstische und größenwahnsinnige Menschen neigen zum Machtmissbrauch. Leute mit diesen Eigenschaften sind stark verunsichert, wenn ihre Macht-, Kontroll- oder Bewunderungsbedürfnisse nicht (mehr) befriedigt werden, sind aber häufig in hohen Positionen und Politik anzutreffen. Hier werden dann einstige Versprechen missachtet, ignoriert und gebrochen. Das Bedürfnis nach Allherrschaft setzt sich durch, um Macht aufrechtzuerhalten, zu sichern oder wieder zu erlangen.

Die Legitimierung unserer Regierung von Prism war also nicht der erste Anschlag auf unsere freiheitlich demokratische Verfassung, wohl aber der größte, er betrifft nicht nur einen Teil der Bevölkerung direkt, sondern alle Menschen. Das Schweigen und Nichtstun unserer Regierung spricht Bände, ob es um die Teilhabe an der Macht geht oder ob sie durch Prism selbst erpressbar geworden ist, sei einmal dahingestellt.

Hier demonstriert die Regierung Verfassungsverstöße in weitreichendem Umfang, da in einer Demokratie nicht nur die Bürger, sondern auch die Mächtigen sich der Verfassung und den Gesetzen zu beugen haben. Über dem gesamten BGB steht Artikel 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Mit dem Nicht-Einschreiten gegen Prism, Tempora wird auch gegen Artikel 2 der Grundrechte verstoßen: (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

 Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, — dies zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, — fühlen sie sich hierzu außer Stande, so leugnen sie von da an unsere »Rechte«. Morgenröthe, Nietzsche, Buch 2, 112.

Möglichkeiten des politischen und technischen Schutzes der Grundrechte sowie der Demokratie

Mit Erschrecken müssen wir feststellen, dass bis heute weder eine Forderung zum Abstellen des Lauschangriffes, noch ein Antrag auf eine internationale Untersuchungskommission gestellt wurden.

Weder Behörden mit sensiblen Daten noch Privatpersonen wurden Verschlüsselungsprogramme zur eigenständigen Spionageabwehr geboten, in Aussicht gestellt oder öffentlich gefordert, bzw. in Auftrag gegeben. Das lässt eigentlich nur zwei Schlüsse zu: Entweder ist die Bundesregierung viel tiefer in den Skandal involviert als bisher bekannt oder die Regierung selbst ist durch den Lauschangriff so erpressbar geworden, dass sie nicht mehr regierungsfähig ist.

Ein Wehren oder Abtreten würde hier Größe demonstrieren, wäre ein Indiz für demokratische Ziele, für einen verantwortungsvollen Umgang mit Macht, ein Zeichen gegen Machtmissbrauch und totalitäre Systeme.

Ein Abtreten widerspräche jedoch dem narzisstischen Selbst und der These Nietzsches, dem Willen zur Macht, dem jedes Individuum erliege. Politische, menschliche Größe werden wir hier also nicht erwarten können. Folglich ist das Volk gefordert.

Die Rolle des Volkes

Presse, Offene Briefe, Petitionen, Demonstrationen ließen die Regierung bisher unberührt, sie hat sich offensichtlich dazu entschlossen, die Affäre auszusitzen und zu hoffen, dass bis zur Wahl nicht allzu viel ans Licht kommt. Nach dem Schweigen ein paar beruhigende Worte und ein mehr oder weniger geschicktes Umschiffen des Skandals.

Den Umfragen zufolge scheint die Rechnung aufzugehen, das Volk hat sich gebeugt, akzeptiert stillschweigend, dass wichtige Grundrechte verletzt wurden, dass für die Regierung demokratische Gesetze nicht mehr gelten sowie dass sie keinen Einhalt mehr vor den Persönlichkeitsrechten des Einzelnen, in diesem Falle aller, gewährt. Nun wird dem deutschen Volk ja von vielen Seiten Obrigkeitshörigkeit vorgeworfen, dies würde auch die Unterwerfung der Regierung unter den »großen Bruder« erklären, obwohl ein Lauschangriff dieser Größenordnung eine eindeutige Kriegserklärung darstellt, vorausgesetzt, dass er nicht in Zusammenarbeit mit unserer Regierung/unseres Geheimdienstes stattgefunden hat.

Der Bürger, der jedoch nur scheinbar die Möglichkeit hat, mit der Wahl einen Regierungswechsel zu ermöglichen durch das chaotische Gebaren der Alternativparteien und dem Angleichen der wenigen, wechselnden Regierungsparteien untereinander (siehe oben), hat bei der Wahl keine Wahl. Die Wahl des einzelnen Bürgers besteht im Moment nur aus drei Alternativen, a) dem Wahlboykott, b) der Protestwahl (die aber wie der Boykott nicht zu einer anderen, unterscheidbaren Regierung führen wird) oder c) auf die alten Parteien zu setzen. Will der Bürger also die Regierung mitbestimmen, bleiben ihm nur die am Skandal direkt oder indirekt beteiligten, traditionellen Parteien.

Die Beteiligung der deutschen Regierung/Parteien an Prism und Tempora bietet zwar genug juristisches Material (Gesetzesverstöße), um die Regierung/beteiligten Parteien/Personen am Skandal abzusetzen, offiziell zu entmachten, jedoch dürfte es sich hier um einen jahrelangen Prozess handeln.

(Artikel 20: 3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Für eine zeitnahe Lösung bliebe also eine Revolte, um die Regierung zu stürzen, wie in anderen Ländern üblich, jedoch würde natürlich auch unsere Regierung sich mit Gewalt »verteidigen«, auch wenn sie, wie anderswo, im Unrecht ist.

Sofern die Bürger also Gewalt vermeiden wollen, sind sie schachmatt. Erst einmal.

Tatsächlich hat es mehr Widerstand gegeben als erwartet: Journalisten, Autoren, Künstler, Blogger, Demonstranten sowie Bürger forderten ihre Rechte ein, starteten Petitionen, viele nahmen trotz Überwachung und im Ungewissen, wie gefährlich das bereits sein kann, ihre Meinungsfreiheit wahr. Das ist zwar in Anbetracht dessen, dass die Regierung trotz allem keinerlei Schritte für den Schutz aller und der Demokratie unternimmt, nur ein schwacher Trost, jedoch gibt es Anlass zur Hoffnung, dass ein Zusammenschluss vieler möglich ist, um demokratische Grundrechte zu verteidigen und die bereits verlorenen zurückzufordern.

Bleibt Gott tot?

 

 

 

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