Trauer ist subversiv

Was ist da unter dem Stein
habe ich gefragt.
Ein Körper, haben sie gesagt.
Und warum die Kerzen?
Für die Toten.
Ach so.

Ich habe genickt, die Hände in den Jackentaschen vergraben, die Nase unterm Ansatz des Rollkragenpullovers verkrochen. Verstanden habe ich nicht. Damals nicht und heute auch nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich frage mich auch, ob sich dieser Riss überhaupt begreifen lässt. Jemand ist da, und auf einmal ist dieser Jemand dann schon wieder nicht mehr. Liegt plötzlich als zerbröckelnder Körperrest unter der Erde, wo die Würmer ihn aushöhlen. Bröselt so zu Staub und Asche. Wenn ich an die Toten denke, bin ich immer ein Kind vor einem Stein auf einem Friedhof zu Allerheiligen. Und die Hand meines Vaters hält mich an der linken Kinderhand fest.

Und meine Mutter entzündet ein Streichholz. Und die Pünktchen der glimmenden Dochte schwimmen in der kalten Novemberluft. Der Friedhof ist ein Meer aus schwarzen trägen Steinmassen, an deren Oberflächen helle Lichter flackern. Der Atem lässt sich als Rauch aus dem Mund pusten. In der Mitte des Friedhofs ein Kreuz, an das ein Körper geheftet ist.

Jesus, sagen die. Warum er Stacheln am Scheitel hat, verstehe ich auch nicht so ganz. Na und.

Der ist nicht echt, haben sie mir gesagt. Ich habe genickt.

Nur die Kerbe in mir drin, die ist echt. Sie blieb übrig, als die Großmutter starb. Und dann die Tante, an Krebs. Ich malte einen Engel für sie, mit Flügeln in dicken Leuchtstiftfarben. Die krakelige Zeichnung wurde mit ihrem Körper gemeinsam verbrannt. Auch das habe ich nicht verstanden. Die Tante nur noch eine Ansammlung von Rauchwölkchen. Dass so was geht. Ich wusste nicht so recht, wie dastehen und dreinschauen damals.

Trauer ist subversiv

Und heute? Wenn der Schmerz des Verlustes auftaucht, frage ich mich wieder einmal, ob ich heute mehr weiß. Die Antwort, die ich mir selbst geben muss, lautet: Nein. Aber ich weiß, dass das Betrauern von Toten wichtig ist, um mit dem Riss umzugehen, der im Inneren entsteht, wenn jemand schon wieder nicht mehr da ist, und um Raum zu geben für etwas, das keine Sprache hat, sich meiner Vorstellungskraft von jeher entzieht. Der dunkle Fleck des Todes als ein Trauma, das sich wie alle Traumata dadurch definiert, jenseits des verbal Erfassbaren zu liegen. Ja, denke ich, als ich fortfahre, mich zu fragen: Du hast keine Worte dafür. Du kannst tanzen, schreien, lachen, weinen, du wirst es nicht aus dir heraustanzen, nicht aus dir herausschreien, nicht aus dir herauslachen oder -weinen können.

Photo: Tomás Castelazo

In Mexiko, hat mir eine Freundin erzählt, gibt es ein Fest, genannt Dia de los Muertos, da werden kleine Totenschädel bunt bemalt. Wie süß das aussehe, hat sie erzählt. Der Tag der Toten sei ein farbenfrohes Volksfest gegen die westlich geprägten Wertvorstellungen, deren Ideale der Staat zu propagieren versucht. Er sei quasi ein letzter Rest, der von den vorspanischen Indio-Gesellschaften erhalten blieb. Eine recht spannende Alternative zu dem aus Amerika importierten Halloween- Wahn, dem die Kinder inzwischen auch in Europa huldigen, ohne recht zu wissen, warum. Vor einem Jahr in etwa klopfte ein Nachbarsbub zu Allerheiligen an meiner Haustür. Nuschelte mit verzogener Miene: „Süßes oder Saures“, und ich verstand zunächst nicht. Erst als er sein Sätzchen zum dritten Mal wiederholte, konnte ich im Kopf die Verbindung zu dem amerikanischen Schlachtruf „Trick or Treat“ herstellen, den ich als Kind für den Englischunterricht auswendig gelernt hatte. Leider hatte ich meine gesamte Schokolade zum Mittagessen schnabuliert, drückte ihm also ein wenig Kakaopulver in die Hand, damit er nicht zu weinen anfing und in der Schule am nächsten Tag erzählen konnte, dass auch er zu Halloween seinen Spaß gehabt habe. Habe ich dem kleinen Nachbarsbuben das Fest gerettet, frage ich mich?

Vom Betrauern der Toten bis hin zum Löffeln von trockenem Kakaopulver ist es doch ein weiter Weg. Dass das Löffeln von Kakaopulver, anders formuliert: das Heranraffen von Süßigkeiten, angenehmer ist als das Innewerden von Verlusten, ist mir bewusst. Und bestimmt ist beides notwendig, gehört beides zum Leben. Ich frage mich nur, warum in unserer Gesellschaft alles auf den „Fun-Faktor“ gesetzt wird. Wo ist Raum für die Stille, in der der Schmerz aufplatzen darf? Und warum wird ständig Amüsiermedizin in Form von Talkshows, lauter Musik und stumpfsinnig entwurzelten amerikanischen Bräuchen in die Risse hineingeschüttet, die wir mit uns herumschleppen? Ist die Angst vor dem bodenlosen Trauma des Verlustes so groß? Ist es so, dass die Trauer, da sie ihren eigenen Gesetzen und Rhythmen unterliegt, eine derartig heftige Furcht in uns erzeugt?

Trauer ist anarchistisch

Ja. Trauer ist subversiv. Trauer ist anarchistisch. Trauer hat Sprengkraft. Und: Trauer ist ein politisches Moment. Dieser Meinung ist auch Judith Butler, die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin. So war beispielsweise, wie Butler in einem Interview konstatiert, die Scham der Hinterbliebenen vieler Aids-Opfer zu groß, um sich eine Form der öffentlichen Trauer zugestehen zu können, die von gesellschaftlicher und politischer Relevanz gewesen wäre. Umso intensiver ist für mich in dieser Hinsicht auch die Botschaft von Derek Jarmans Film Blue, in dem er seinen eigenen Verfall, sein eigenes Erblinden aufgrund des HIV- Virus, auf poetische Art und Weise festhält. Die minutiöse Dokumentation eines Leides, das durch einen – im Übrigen im Labor durch Menschenhand gezüchteten – Virus entstand – lässt uns „hinschauen“, auch wenn wir nichts anderes mehr sehen können als ein blaues Standbild, der Perspektive des nun erblindeten Regisseurs Derek Jarman nachempfunden.

Trauer hat Sprengkraft

Doch zurück zu der amerikanischen Philosophin Judith Butler. Den Prozess, in dem einzelne Formen von Leben als betrauerbar erfasst bzw. andere Formen ausgeklammert werden, bezeichnet Judith Butler als „Framing“. Dies sei eine Technik, die vor allem von den (amerikanischen) Massenmedien zur Genüge eingesetzt werde, so die feministische Philosophin. Das Leben eines amerikanischen Soldaten, der in Afghanistan getötet wurde, wird als betrauerbar angesehen, während die Massen an afghanischer Zivilbevölkerung, die ihr Leben lassen mussten, in unseren Trauerregistern nicht vorhanden sind. Leben, das nicht existiert, kann nicht betrauert werden. Oder umgekehrt: Leben, das nicht betrauert werden kann, verlischt, gerade so, als hätte es nicht existiert.

Einerseits macht zwar die westliche Welt universale Ansprüche von moralischen sowie politischen Werten geltend – man denke nur daran, wie sehr sich die US-amerikanische Regierung darum bemüht, die westlichen Werte der Gleichberechtigung in die sogenannte „rückschrittliche“ östliche Welt zu bringen, während die Stellung der Frau in der westlichen Gesellschaft nach wie vor zu wünschen übrig lässt, mehr noch: Chauvinistische Ideen sowie traditionelle Frauenideale boomen wie kaum je. Andererseits fallen diese Ansprüche sofort weg, wenn es um die Betrauerbarkeit einer Bevölkerungsgruppe geht, die nicht in den „Rahmen“ passt. Öffentlich um jemanden zu trauern heißt gleichzeitig, jemandem eine Stimme zu geben, und ist also ein Akt höchster politischer Relevanz.

Aber da die Blase der Trauer ihren eigenen Kosmos mit sich herumschleppt, in dem andere Gesetze herrschen als in unserem terminreichen Alltagsstress, können auch Riten und religiöse Formen der Verarbeitung nur Krücken sein, mit denen wir uns weiterhanteln, das Unintegrierbare in uns zu integrieren, das Unsagbare zu artikulieren.

Ich denke da zum Beispiel an die Wiederinszenierung des Sterbens beim Begräbnis durch das Zuschaufeln des Sarges mit Erde. Wie im Theater, in dem der Vorhang fällt und dem Zuschauer so signalisiert wird, dass das Spiel nun zu Ende ist, ist das Beschütten des Sarges mit kleinen Schaufelstückchen Humus eine Form des performativen Aktes, der uns bei dem Versuch, uns den Verlust für uns selbst begreifbar zu machen, helfen kann. Der Riss bleibt, eine Kerbe in der Seelentopografie. Er erinnert uns an das, was wertvoll war und nun schon wieder nicht mehr da ist.

Heute ist ein nebeliger Herbsttag. Ich übe die Trauer. Ich gestehe sie mir zu. Ich trauere um alle, die keine Namen haben, die in den Rastern des Erfassbaren nicht vorkommen. Die politisch Verfolgten, die Frauen hinter den Schleiern genauso wie die Frauen, die tagtäglich unter dem Druck stehen, ihre Körper als Sexualobjekte inszenieren zu müssen, ich betrauere die Opfer des Krieges, der unter dem fadenscheinigen Grund geführt wird, einem Land „die Moderne“ zu bringen, und dabei unzählige Menschenleben kostet.

Ich trauere, und dazu höre ich Antonys Song The spirit was gone. Ich schaue aus dem Fenster, ja, ich trauere, dazu brauche ich keine Religion, keine Ideologie, keine festgelegten Riten. Leise singe ich mit der CD mit: „The spirit has gone from her body. Forever. Has always been inside. And now it’s disentwined. It’s hard to understand. The spirit has gone. The spirit has gone.“

 

 

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Weiterführend →

In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

Auf dem Cover: ein Frühlingel von Peter Meilchen

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.