Da lachen nicht nur die Hühner

In Zeiten, in denen sich die Ent-Sinnlichung der Dinge bis hin zu ihrem vielleicht baldigen Verschwinden vollzieht (Glaser am 05.01.2013 in Kulturnotizen), kann eine revoltierende Hühner-Menschen-Gemeinschaft als Helden und Anti-Helden eines Romans amüsierter Aufmerksamkeit sicher sein. Diese Gemeinschaft lebt und agiert in einem nur noch durch militärische Macht gestützten, ultra-normativen Staat, dessen nieselpriemelige Vertreter mit Sicherheit zu den humorlosesten Menschen der Welt gehörten. Nahezu ›naturgemäß‹ offenbart sich, dass hier von einem Staat die Rede ist, der sich Deutsche Demokratische Republik nannte, der von seinem westdeutschen Nachbarn als DDR – zuerst mit, später ohne Anführungszeichen geschrieben – bezeichnet wurde.

Diesem sich selbst überlebt habenden Staatsgebilde mit seinen in der Endphase nur noch skurril-bösartig um sich schlagenden ›Organen‹ eine bierernste, realistisch-vorführende Darstellung versagt, statt dessen ihn mit phantasievoll-komischen, oft parodistischen Mitteln zum literarischen Leben erweckt zu haben, ist Wolfgang Schlott gelungen. Das Ergebnis erfüllt mich mit unverhohlener Schadenfreude.

Schadenfreude? Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst einige Worte zum Inhalt von Schlotts Roman, der unter dem Titel Leben in Zeiten der Revolte Ende 2012 im Berliner Patchworldverlag erschienen ist.

Beginnen wir mit den Anti-Helden – und schon sitzt man in dem Dilemma, ob nun zuerst der Legehennenbatterie-Betreiber Karl Seidelwitz, ein harmloser, wenn auch eigensinniger, im grenznahen Städtchen Rabal lebender DDR-Bürger zu nennen sei oder seine Hühner-Brigade, angeführt von der sprechenden, klugen, verschmusten Althenne Luise, oder gar Franz, der eitle Hahn. Wie auch immer, gehören sie doch alle zusammen zur sozialistische Eier produzierenden Hühnerfarm Morgendämmerung, deren Legeleistungen Seidelwitz, wie in DDR-Betrieben üblich, in eindrucksvollen Zahlenkolonnen am Schwarzen Brett anzuzeigen pflegt, in Zahlen, die mit den Namen der fleißigsten und erfolgreichsten Hennen garniert sind.

Eher ein Held, wenn auch kein reiner, ist der Ich-Erzähler Christian, Seidelwitz’ Sohn und von Beruf aufklärender Pennäler mit einigen altersgemäßen Liebschaften und starkem Widerstand gegen die verpesteten, regelmäßig von Norden her einfallenden Winde, die von den Abgasen nahegelegener Bleihütten stammen. Neben den Abgasen plagen nicht wenige

Einwohner, vor allem Christian und die mit ihm verbündete Abiturientengruppe, Träume – Wachträume? Albträume? Tagträume? – von ganz nahe gelegenen, riesigen unterirdischen Bunkern, in denen die ›Organe‹ der Staatsmacht Grenzdurchbrüche simulieren und damit bei Fluchtversuchen erwischte Bürger umzuerziehen versuchen, was einer folternden Gehirnwäsche gleichkommt.

Man schreibt das Jahr neunundachtzig, und manch ein Bürger getraut sich bereits, zaghaft Widerstand zu leisten. Christian und seine Freunde vor allem sind dabei, sie führen am Ende eine Flugblattaktion gegen die gesundheitsschädliche, atemraubende Luftvergiftung durch, werden schon bei der Vorbereitung bespitzelt und … Nur das sei hier noch verraten: Mit den kritischen Äußerungen, aufmüpfigen Aktionen, Querelen und Gegen-Querelen der zunehmend selbstbewusster und kritischer auftretenden Menschen gehen die spitzbübischen Schandtaten der manchmal tumb-störrischen, manchmal gewitzt widerständigen Legehennen-Brigade des Bürgers Seidelwitz einher; sei es, dass Althenne Luise auf dem Arm von Seidelwitz aufrührerische Parolen hinausgackert oder ihm Unerhörtes in Hennensprache, die nur er versteht, ins Ohr souffliert, sei es, dass Franz, der Hahn, dem übelwollenden staatlichen Hygiene-Inspizienten ans Hosenbein kackt.

Warum gerade Schadenfreude ob all dessen? Ist es nicht bedrückend und ernsthafter Verbundenheit würdig, wie authentisch Schlott, der in Rumänien und in der DDR wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis saß, einen durch die eigene Biografie verbürgten Diktatur-Alltag gestaltet?

Ja, aber – Genugtuung bereitet es, mitzuerleben, wie der Autor scheinbar ganz nebenbei die Spielregeln des „Sozialistischen Realismus“, auf den auch in der DDR alle Kulturschaffenden immer wieder eingeschworen wurden, konterkariert, ihn scheinbar absichtslos dekuvriert als das, was er war, seit er 1934 auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetischen Schriftsteller verkündet wurde. Verkündet nicht etwa von einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin, sondern vom Leningrader Parteisekretär Andrej Shdanow. Verkündet ohne vorangegangene Diskussion, als verbindlich gesetzt in Anwesenheit einer international geachteten Schriftstellergarde, zu der Louis Aragon, Johannes R. Becher, Maxim Gorki, Martin Andersen Nexö, Klaus Mann, Ernst Toller und viele andere gehörten. Diese Doktrin, die fortan als einzig wahre und dem neuen Menschen angemessene Kunstform propagiert werden sollte, verlangte von allen Autoren vor allem eins: die Gestaltung eines positiven Helden, eines Menschen, der seinen Mitmenschen durch alle Widrigkeiten und Fährnisse vorangeht, immer und überall Parteilichkeit lebt und anderen abverlangt, der den Weg in eine sozialistische Zukunft weist. So wurde im Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller 1934 vom Künstler die wahrhaftige, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung gefordert. Über Phasen mit trügerischen Lockerungen hinweg – so z.B. in der nach Ilja Ehrenburgs Roman Tauwetter (1954) benannten Periode  – wurden auch die SchriftstellerInnen der DDR ständig mit dieser Forderung konfrontiert. Bereits auf dem Vierten Schriftstellerkongress der DDR (1956) beklagten u.a. Autorinnen und Autoren wie Eduard Claudius, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Anna Seghers und Arnold Zweig die aus der Doktrin des ›Sozialistischen Realismus‹ entstandenen Widrigkeiten wie Schematismus, Sterilität und Schurigelei. Und folgerichtig forderte der Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer Ende 1956 in einem zunächst von der Zensur verhinderten, dann in der Kulturbund-Zeitung Sonntag abgedruckten Radio-Essay Zur Gegenwartslage unserer Literatur, dass sich das literarische Klima ändern müsse. Er prangerte die schematische Darstellung der Wirklichkeit als rotangestrichene Gartenlauben an und mahnte, moderne Literatur sei nicht denkbar ohne die Kenntnis der modernen Literatur. Doch die Gängelung der ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller hielt bis zum Ende der DDR unvermindert an.

In Schlotts Roman führt kein positiver Held die Bürgerinnen und Bürger von Rabal aus ihrer Verirrung heraus; statt dessen scharrt sich eine Henne symbolisch an die Spitze der zaghaften Bürger-Bewegung, gefolgt von einer sich zunehmend radikalisierenden, ihr Lege-Soll parodistisch übererfüllenden, 32köpfigen Hühnerschar und einem Hahn. Niemand weiß so recht – in der Hühnerfarm nicht, in den Schulen, den Zeitungsredaktionen, auf den Straßen und in den Betrieben, ja selbst in den Parteibüros nicht – wo und wie es durch all den stinkenden Dunst hindurch in die verheißene sozialistische Zukunft mit reiner Luft gehen könnte.

Nochmals zur Schadenfreude: Sie sei gestattet darüber, dass ein Staat ausgerechnet mit den Mitteln einer Wortkultur, die er den Literaten seines Landes hartnäckig und unter Verhängung von Strafen auszutreiben trachtete, gnadenlos seines Nimbus entkleidet, als banales, maulwurf-felliges, schlapphut-durchsetztes Gebilde enttarnt wird, um schließlich dem barmherzigen Mantel der Geschichte überantwortet zu werden.

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Ausgewählte bibliografische und literaturgeschichtliche Hinweise:

  •  Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet v. Helmut de Boor u. Richard Newald. Band XII: 1945 bis zur Gegenwart, 2. erweiterte Aufl., C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1994.
  • Ila Ehrenburg: Tauwetter, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1957 (Erstdruck in Literaturzeitschrift Snamja, Moskau 1954).
  • Erster Allunionskongress der Schriftsteller, Moskau, 17.08.- 01.09.1934. S.: Karsten Laske: 1934 – Zwei Wochen Moskau. In: der Freitag Nr. 4 v. 24.01.2013.
  • Alfred Klein: Heimat auf Zeit. Hans Mayer an der Universität Leipzig. In: UTOPIE kreativ, H. 77 (März 1997), S. 29-45.
  • Nadeshda Ludwig (Hg.): Handbuch der Sowjetliteratur: (1917-1972). Leipzig 1975.
  • Hans Mayer: Zur Gegenwartslage unserer Literatur. In: Sonntag Nr. 49 v. 2.12.1956.
  • Wolfgang Schlott: Leben in Zeiten der Revolte, Roman, Patchworldverlag, Berlin 2012.
  • Vierter Schriftstellerkongress der DDR, 09.01.-14.01.1956. S.: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. XII, S. 279.