Baracken- und Underground-Lyrik

Eine weitere Erinnerung an die „Dirty Speech“-Bewegung in der BRD, die 1969 mit der Rolf Dieter Brinkmanns „Acid“ zu verorten ist. Es war eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnend, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral zu brüskieren, lyrische Formen zu banalisieren, den Alltag zum Thema zu machen und Sex, Brutalität, Perversion als Sujets zu akzeptieren. 

Wer den schwarz-weiß-karmesinrot gestalteten Umschlag mit kyrillischen Buchstaben auf der Vorderseite und deren deutschsprachige Fassungen auf der Rückseite – mit der umgetauschten sprachlichen Variante der Autor- und Titelbezeichnung – genauer betrachtet, der wird bei der ersten schweifenden Lektüre die russische und deutsche Version dieses Textes fast genau in der Hälfte des Bandes wieder entdecken – allerdings ohne Seitenangabe. Die durchbrochene Nummerierung der Seitenzahlen findet beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis möglicherweise eine einleuchtende Erklärung. Ich lebe ich sehe, ein Verweis auf ein konzeptualistisches Gemälde des Moskauer Malers Erik Bulatow, steht dort als Kennzeichnung für den Beginn eines neuen thematischen Abschnitts. Wollten die beiden Herausgeber, die seit den frühen 1980er Jahren, als sie den minimalistischen Dichter Nekrassow und andere Poeten der „Baracken- und Underground-Lyrik“ in Moskau kennenlernten und sie in ihrer Buch-Tonkassette „Kulturpalast“ (Wuppertal 1984) verewigten, unter Pseudonym publizieren, einen Hinweis auf eine „minimalistische“ Lücke in der Poetik von Wsewolod Nekrassow geben?

Auf der Suche nach einer Lösung des eigenwilligen nummerischen Phänomens hilft dem neugierigen Leser das poetologisch aufgeladene Geleitwort des Nestors der europäischen minimalistischen Poetry, Eugen Gomringer, nicht unbedingt weiter. Oder führt ihn der Hinweis, dass im Fall von Nekrassow die „Stimme … als Organ und Medium“ (S. 8) gefeiert werde, in den Kern einer Poetry, die stimmlichen Ursprungs sei und nicht vom geschriebenen Text zum mündlichen Vortrag verlaufe? Mehr noch: „der schriftliche Text […] könne eher als beiläufige Fixierung betrachten werden.“ Und die in diesem Band vorliegende schriftliche Fixierung (samt der auf den genannten Seiten weggelassenen Nummerierung), ganz abgesehen von ihrer Übertragung aus dem Russischen? Da wird der Leser mit einem Phänomen konfrontiert, das Gomringer mit Verweisen auf die Traditionslinien des stochastischen Schreibens, also nach dem Zufallsprinzip entstandene poetische Strukturen, dem Experiment verhafteten Konstrukt und den Wortfreistellungen in den Gedichten von Mallarmé erläutert. Im Hinblick auf die eigenständige Poetik von Nekrassow begegneten dem suchenden Leser, so Gomringer, eine Reihe von Verfahren, wie: sich wiederholende Wortfolgen, Inversionen, Lautfetzen aus der Redewirklichkeit, penetrante Wiederholungen von Personen- und Städtenamen, sich häufende Blicke auf das weiße Papier, auf dem sich (scheinbar) leere Räume ausdehnen, veränderte Wortfolgen in abgebrochenen Sätzen und manches mehr. Kein Wunder, dass Gomringer, der sich auf die übersetzerische Fähigkeit der Nachdichter und die poetische wie auch poetologische Einstimmung der Interpreten verlässt, indem er von einer „eigenwilligen Lebendigkeit“ seiner Poesie spricht. Allerdings mit einer kleinen verständnisheischenden Einschränkung. Selbst wenn der russische Dichter manche Übereinstimmungen mit poetologischen Verfahren in anderssprachlichen lyrischen Konstrukten als eigene Erfindungen reklamiere, müsse ihm zugestanden werden, dass er aufgrund seiner Regelung der Wort- und Sinnfolgen nach immanenten Gesetzen von Logik und Mathematik sich im inneren Kreis der Konkreten Poesie befinde. Er habe „gleich konkreten Dichtern die Reform in der Komplexität, die Sprache der Poesie der eigenen Zeit“ (S. 9) gesucht und … gefunden. Er bekenne sich zu dieser im Titel dieses drucktechnisch überzeugenden Bandes genannten naiven Weltformel der Poesie: „ich lebe ich sehe“, in der „auch der Hörende sehend, und der Sehende hörend“ werde.

Im „Kulturpalast. Neue Moskauer Poesie & Aktionskunst“ aus dem Jahr 1984 beschreiben die Interpreten und Nachdichter Hirt/Wonders ihre Begegnung mit dem 1934 in Moskau geborenen Wsewolod so: „In Nekrassows Poesie dominiert das nuschelnde Anti-Pathos, die Zimmerlautstärke, die Lexik der Hilfs- und Füllwörter. […] Das Erleben […] bildet den Impuls seiner Poesie. Was dem westlichen Leser beim ersten Hinsehen als eine sowjetische Variante der konkreten Poesie erscheinen mag, ist eine originäre Synthese aus Redeintonation, Lautgedicht, lyrischer Haltung und visuellem Textverständnis.“ (ebda., S. 12)

Dreißig Jahre danach gelangen die Herausgeber zu einer Ausdifferenzierung der Poetik: „Die Dichtung Nekrassows ist, als Rede wie als Text, ein physisches Ereignis. In ihr verbindet sich eine ganz auf die Intonation der Rede abgestimmte lyrische Diktion, […]. Sie befindet sich gleichsam auf der Schwelle zur Artikulation, erfasst die Momente des Übergangs zwischen innerer – noch gärender, vorgrammatischer – Rede und äußerer – objektivierter, normierter – Rede. (S. 320).

Und welche Funktion übernimmt in diesem Band, der einen Querschnitt durch das Schaffen des 2009 in Moskau gestorbenen Dichters präsentiert, der schriftliche Text? Er „scheint die beiläufige Fixierung eines Zwischenzustands in diesem Sprechen zu sein.“ (S. 320) Die so vorsichtig formulierte Beschreibung mündet in eine Definition der den Dichter umgebenden Redewirklichkeit: „Das lyrische Sprechen wird polemisch, oft zugespitzt bis zur Form des Epigramms, indem es Intonationen und Sinngesten aushorcht und bloßstellt, die die Letztgültigkeit eines autoritären Wortes behaupten. “ (S. 321)

Spätestens beim lauten Lesen der Texte im sechsten Abschnitt, der den ideologisch aufgeladenen Titel Freiheit ist Freiheit (vgl. S. 193-248) trägt, wird dann auch eine „tiefe Aversion gegen alles Machtrhetorische, sei es politischer oder literarischer Art“ (S. 321) deutlich wahrnehmbar: „nicht ausgehalten / hat Russland seine Freiheit / nicht ausgehalten hat es / seine russianische Dummheit … „ (S. 241)

Und zwei Seiten weiter sogar mit einem, allerdings überflüssigen onomatopoetischen Zusatz: „Da setzt sich unsere Partei / Die alte auf die Leiche wupp / Und mit Augen / Und mit Zähnen /Und mit Krallen / Ganz korrup ja korrup.“ (S. 243)

Einer ganz anderen Thematik sind die Leningrader Gedichte (S. 131-159) gewidmet. Sie bilden den einzigen von Nekrassow authorisierten Zyklus, zumal dessen prozessuales Schaffen sich ohnehin durch wiederholte Zusätze in und Überarbeitungen von bereits vorhandenen Manuskripten auszeichnete. Und in diesen Texten, in denen sich Namen und Begriffe wie Mandelstam, Pasternak/ Meyerhold oder auch Petersburg/Petrograd/Leningrad; Futurist, Tenderlock wiederholen, werden Kenner der russischen Poesie eine ironische und sogar sarkastische Auseinandersetzung mit dem tradierten Petersburger Mythos entdecken.

Und die Liebhaber minimalistischer Poesie, die sich gerne einen Zugang zu dieser bis zu Beginn der 1990er Jahre weitgehend aus ideologischen Gründen verschlossenen Dichtung verschaffen wollen? Sie sollten, bevor sie sich an die laute Artikulation der vorliegenden Texte machen, ganz aufmerksam die dem Band beigefügten Texte von Wsewolod Nekrassow (Erklärende Notiz und Ausnahmeregeln (Fragment)) wie auch die von Günter Hirt und Sascha Wonders verfassten transparenten poetischen Notizen zum Werk des bislang nur in slawistischen Kreisen bekannten Dichters lesen. Und zwischendurch ist zu empfehlen:  immer mal aus jedem der fünf Zyklen ein oder zwei Texte laut lesen, oder auch die Blätter (S. 250ff.) da und dort mit eigenen Beiträgen erweitern! Wie wäre es zum Beispiel mit einer stochastischen Zugabe auf den Seiten 266 ff.? Sie werden eine stetig wachsende Freude und Genugtuung bei der Entdeckung von poetischem Neuland empfinden! Und je länger Sie sich artikulierend durch die blitzartig auftauchenden Schriftzeichen, egal ob Russisch oder Deutsch, bewegen, desto häufiger springen Sie von innerer zu äußerer Rede und entdecken – nicht sofort, sondern allmählich – die Konturen eines Juwels, der glimmert, glitzert und unerwartete Assoziationen hervorbringt.

 

 

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Ich lebe ich sehe. Живу и вижу von Wsewolod Nekrassow. Ausgewählt, aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Günter Hirt und Sascha Wonders. Vorwort von Eugen Gomringer. Münster (Verlag Helmut Lang) 2017